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21. Jul 2021

Rezension Adel und Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit

von broemmling

Helmut Glück | Mark Häberlein | Andreas Flurschütz da Cruz (Hg.): Adel und Mehrsprachigkeit in der Frühen Neuzeit. Ziele, Formen und Praktiken des Erwerbs und Gebrauchs von Fremdsprachen (= Wolfenbütteler Forschungen Band 155). Harrassowitz Verlag in Kommission, Wiesbaden 2019. 259 Seiten, 58 EUR.

Es mag eines der putzigsten Bilder sein, die je für einen Band der langen Reihe der Wolfenbütteler Forschungen ausgewählt wurden: Wir sehen eine Treppe mit unzähligen Stufen (erst weil es heute ans Bilderklären geht, habe ich sie nachgezählt, es sind 15). Unten steht ein Männlein – da oben am Ende der Stufen ein Thron steht, handelt es sich wohl um einen Prinzen. Jede Stufe auf dem langen Weg hin zur Macht ist mit einem Studienfach, mit Tugenden und Fertigkeiten bezeichnet. In lateinischer Sprache beginnt es mit den Humanwissenschaften oder besser gesagt, mit der Gesamtheit des humanistischen Bildungsprogramms, zu dem ursprünglich Grammatik, Rhetorik, Poesie, Moralphilosophie und antike Geschichte gerechnet wurden. Aber wir halten uns auf, wir wollten nur kurz ein Bild erklären: Eine Stufe von 15 war das, jedes Fach, Theologie folgt gleich als nächstes, hat doch nur eine kleine anteilige Bedeutung auf dem Bildungsweg, den der Prinz durchschreiten muss oder sollte, bis er reif zum Regieren war. Kontinuierlich auf diesem Weg sind nur zwei Dinge, denn sie säumen begrifflich wie bildlich links und rechts die gesamten Bildungstreppe: Rechts geht es um Leibesübungen. Das verwundert nicht. Rudern oder Radfahren einmal oder fünfmal die Woche ist bis heute jeder gewohnt. Aber auf der linken Seite gesellt sich als Dauerbrenner (im Plural) Auslandsaufenthalt und Auslandsreise hinzu. Wie wertvoll Erfahrungen im Ausland sind, sieht man in dieser Deutlichkeit selten irgendwo gezeigt. Das Studium exotischer Sprachen ist dann noch einmal eine gesonderte Stufe auf dem Weg zur Erkenntnis – und Erkenntnis sei hier mal als allgemeingültiges Bildungsziel gewählt, denn das Buch mit seinem Titelbild soll uns schließlich auch noch etwas sagen.

Die Aufsätze des vorgestellten Bandes konzentrieren sich auf den Fremdsprachenerwerb des Adels im 16. und 17. Jahrhundert. Die Herren reisten und waren erst nach ihrer Grand Tour ernst genommene Mitglieder ihres Standes, die Damen durften zuhause bleiben und im wahrsten Wortsinn Hausaufgaben machen. Nein, das ist genauso wenig schwarz-weiß gültig wie alles im Leben, das auch damals schon bunt war. Wie umworben erfolgreiche Schüler bei Hofe waren, erzählt Nils Jörn in seinem Aufsatz über die Hoffnungen der schwedischen Krone auf einen polyglotten Assessor – hier erhalten wir einen Einblick in die Probleme des Alltags monarchischen Regierens. Interessant bei vielen Aufsätzen, welche Aufgaben und welches Ansehen den einzelnen Sprachen an den unterschiedlichen Höfen zukam. Dass im kroatischen Adel, der oft neben Kroatisch auch Ungarisch sprach, Latein für den nationalen Schriftverkehr nutzten, aber erst dann als zivilisiert galten, wenn sie auch Deutsch konnten, zeigen Ivana Horbec und Maja Matasović. Als Amtssprache hatte das Deutsche nur eine sehr kurze Karriere bis 1790; Latein hielt sich bis 1847 als Amtssprache, bevor Kroatisch übernahm. Latein wurde sogar als Waffe im Widerstand gegen die deutsche Sprache (und damit die habsburgerischen Einflüsse) genutzt. Die Funktion der Sprache als Waffe kommt auch bei den Fremdsprachenkenntnissen in deutschbaltischen Adelsfamilien zum Vorschein. Ineta Balode zitiert aus einem Brief von Balthasar Freiherr von Campenhausen 1787 über das Französische: Ein junger Edelmann, der diese Sprache nicht mit Geläufigkeit als seine Muttersprache spricht, wird bei erwachsenen Jahren lächerlich, es sey auch in Rußl. oder Teutschland. Das schönste Zitat aus dem, Buch aber entstammt dem Aufsatz von Barbara Katz über sprachenkundige Frauen im Adel der Frühen Neuzeit. Georg Christian Lehms beschreibt dort die Fremdsprachenkenntnisse von Margarethe Sybilla Löser, geb. von Einsiedel (1642-1690): Gut Hebräisch, nett Grichisch, schön Latein und galant Italiänisch. Das schaffte in der heutigen Zeit gerade mal meine Klassenkameradin Claudia Wulff. Und die ist vor fünf Wochen, am 12. Juni 2020, verstorben. Der Sammelband bietet mannigfachen Aufschluss, hier erweitert jeder Beitrag das Wissen der Leserschaft, was man nun wirklich nicht von jedem Aufsatzband erwartet, der Folge einer Konferenz ist – wer ehrlich ist, erwartet das eher selten. Aber hier passt es, selbst die Gliederung scheint einer gewissen Dramaturgie zu folgen: Der Band schließt mit Helga Meises Beitrag über Fremdsprachen im Spiegel von Fürstenbibliotheken im 18. Jahrhundert.

2. Jul 2021

Neuerscheinungen zum Stiftungswesen

von broemmling

Aus dem StiftungsManager, Nachlieferung 1/21

Olaf Werner | Ingo Saenger | Christian Fischer (Hg.): Die Stiftung. Recht – Steuern – Wirtschaft. 2. Auflage. Nomos Verlag, Baden-Baden 2019. 1184 Seiten, 138 Euro. 978-3-8329-5222-8.

Jeder zweite juristische Fachverlag verfügt inzwischen über ein Standardwerk zum Stiftungsrecht, oft erweitert um steuerliche und gemeinnützige Aspekte. Jedes dieser Buchprojekte war ein für den jeweiligen Verlag ein Wagnis, solange es bei C.H. Beck den Seifert/von Campenhausen gab. Der hatte Maßstäbe gesetzt und diese durch Folgeauflagen weiter justiert; selbst wer ein weiteres Handbuch zu Rate zog, kam am Blick in den Seifert/ von Campenhausen kaum vorbei. Doch dieses große Handbuch ist Geschichte und so hat sich das Wagnis der anderen Verlage durchaus ausgezahlt. Überall erscheinen die Standardwerke nunmehr auch in zweiter und dritter Auflage. Als eines der letzten großen Werke ist im Berliner Wissenschafts-Verlag 2008 „Die Stiftung“ erschienen, das Handbuch für Recht, Steuern und Wirtschaft. Elf Jahre später verlegte Nomos die zweite Auflage. Der Nomos Verlag hat den Titel wie auch die Zeitschrift zum Vereins- und Stiftungsrecht (ZVSt) vom Berliner Wissenschafts-Verlag übernommen. Die zweite Auflage des Handbuchs enthält umfassende Änderungen, schließlich waren auch hier Gesetzesänderungen und weitere Aktualisierungen einzuarbeiten, etwa das Ehrenamtsstärkungsgesetz von 2013. Der Band verzichtet auf den Untertitel „Stiftungsrecht“ der Vorauflage, liefert er doch zur Verwaltung, zu Haftungsfragen und zur Aufsicht entscheidende Ausführungen. Die grundlegend überarbeitete Gliederung erscheint bei genauem Vergleich, obwohl hier mehr Themen dazugekommen sind, übersichtlicher und stringenter. Manche Kapitel sind völlig neu gefasst, exemplarisch sei hier das Kapitel „Stiftungsaufsicht“ genannt, das Wolfram Backert für die Erstauflage bearbeitet hatte. Angelo Winkler, ehemals Stiftungsaufsicht Sachsen-Anhalt, hat dem Thema mit einem völlig neuen Text ein junges Gesicht gegeben. Für den Einstieg in die gesetzlichen Grundlagen beschränkt sich der Autor auf drei Grundformulierungen in §§ 80, 81 BGB, bevor er mittels neun Entscheidungen von Bundesverwaltungsgericht und Bundesgerichtshof die großen Fragestellungen anschaulich nebeneinander stellt, mit denen die Stiftungsaufsicht befasst ist oder im Zweifel befasst sein sollte. Es folgt ein erster Überblick in 24 Leitsätzen, bevor Angelo Winkler sich zu anderen Stiftungsrechtsformen äußert, bestens juristisch aufgefächert. Erst dann geht es in die Einzelheiten, nachdem die Leserschaft den ersten Überblick gewonnen hat. Falls man überhaupt etwas vermisst, sind das kritische Kommentare zu den Schwachstellen des Systems der Stiftungsaufsicht. Mehrere Autorenwechsel haben der Neuauflage ebenso wenig geschadet wie die Erweiterung des Herausgebergremiums um Christian Fischer, dem wie bisher Olaf Werner und Ingo Saenger angehören. Und auch der um ein Drittel auf 1200 Seiten gewachsene Umfang bekommt dem Handbuch gut.

Rupert Graf Strachwitz | Eckhard Priller | Benjamin Triebe: Handbuch Zivilgesellschaft (= Maecenata Schriften 18). De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2020. 360 Seiten, 49,95 Euro. 978-3-11-055129-7.

„Alle reden von Zivilgesellschaft, aber keiner weiß, was es ist.“ Das könnte ein Spontispruch aus dem West-Berlin der Mauerzeiten gewesen sein, nur dass der Begriff Zivilgesellschaft im politischen Diskurs erst nach Mauerfall überhaupt Gestalt annahm. Bis heute besteht keineswegs Konsens darüber, was die Zivilgesellschaft bezeichnet, welchen Organisationsgrad sie haben muss, wie stark sie sich von Wirtschaft und Staat abgrenzen muss – und schon folgen wir einer von immer noch vielen Arten der Definition. Etliche Norweger waren noch vor zehn Jahren davon überzeugt, Zivilgesellschaft bezeichne alles, was nicht militärisch sei, andere gehen von mehr als drei Bereichen aus und betrachten neben Wirtschaft, Staat, Zivilgesellschaft noch das Private (oder die Familie) und das Kriminelle. Je nach politischer Verortung werden Bedeutung und Beschränkung zivilgesellschaftlicher Akteure formuliert. So verwundert es nicht, dass der Staat keinen Widerspruch darin sieht, zu bestimmen, was bürgerschaftliches Engagement ist, um dann das entsprechende „Bundesweite Netzwerk“ zu koordinieren. Somit gab es bislang keinen verlässlichen Überblick zum Begriff und zum Phänomen der Zivilgesellschaft. Ob es so etwas in diesem Sinne jemals geben wird, geben kann, ist fraglich; auch die Wissenschaft ist sich bis heute keineswegs einig, etwa inwieweit Stiftungen öffentlichen Rechts Teil der Zivilgesellschaft sind, wenn sie im Gegenteil öffentlicher Kontrolle durch gewählte Repräsentanten entzogen sind. Fängt man mit einem Beispiel an, fallen gleich viele weitere ein. Dennoch ist das Handbuch Zivilgesellschaft, wie es jetzt in der Reihe Maecenata Schriften vorliegt, als großer Fortschritt zu werten. Hier sind nicht nur die Grundlagen und Traditionslinien aufgezeigt, die sich von zivilgesellschaftlichen Organisationen zurückverfolgen lassen – soziale, kirchliche, ökologische Bewegungen. Viele politische Denkerinnen und Denker haben sich zu dem geäußert, was wir heute als Zivilgesellschaft bezeichnen würden, auch wenn das allenfalls als „bürgerliche Gesellschaft“, als „offene Gesellschaft“ oder als „handelndes“ Subjekt auftaucht. In welchen Rechtsformen organisiert sich die Zivilgesellschaft zu welchem Zweck? Hier ist der Antwortenkatalog umfassend, wenn auch nicht abschließend. Von der Makroebene, die das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft beschreibt, geht es über die Mesoebene, eine Zustandsbeschreibung der aktiven Institutionen der Zivilgesellschaft, bis zur Mikroebene mit dem Thema Ehrenamt. Auch die aktuellen Debatten, zumindest die lautesten, nennt die Zusammenstellung, die damit zu Recht den Titel eines Handbuchs führt.

Bundesverband Deutscher Stiftungen (Hg.): European Community Foundation Initiative. A Guide to Community Foundations in Romania. Bundesverband Deutscher Stiftungen, Berlin 2018. 43 Seiten. 978-3-941368-93-4.

Bundesverband Deutscher Stiftungen (Hg.): European Community Foundation Initiative. A Guide to Community Foundations in Italy. Bundesverband Deutscher Stiftungen, Berlin 2018. 51 Seiten. 978-3-941368-92-7.

Sind die Bürgerstiftungen eine Idee, die aus Europa kommt, weil hier die stifterische Tat auf die Idee der Bürgergesellschaft trifft; zwei Faktoren, die sich tatsächlich auf europäische Wurzeln zurückführen lassen? Oder ist die Bürgerstiftungsbewegung in Deutschland darauf zurückzuführen, dass Reinhard Mohn einmal in Amerika von den Community Foundations hörte und die Idee mit nach Europa nahm? Seit gut zwei Jahrzehnten gibt es glühende Anhänger der einen wie der anderen Theorie. Es wird wohl eine Mischung aus beidem gewesen sein; in jedem Fall aber hat sich im Europa der Gegenwart der Bürgerstiftungsgedanke nirgendwo so rasant und so effektiv verbreitet wie in Deutschland. Hier sitzen die alten Häsinnen und Hasen, die, oft unterstützt von der Bertelsmann Stiftung und TCFN, dem Transatlantic Community Foundation Network, von gemeinsamen Aktivitäten mit Vertretern der Community Foundations Spezialwissen erworben haben. Dieses Wissen wollen sie teilen und weitergeben an andere Akteure, die in anderen Staaten Europas Bürgerstiftungen aufbauen oder aufbauen wollen. Die European Community Foundation Initiative (ECPI) bringt zur Flankierung einzelner Aktionen eine Reihe von Ratgebern, jeweils auf ein Land ausgerichtet, kostenlos an Interessenten. Die Länderstudien, von denen hier exemplarisch „A Guide to Community Foundations in Romania“ und „A Guide to Community Foundations in Italia“ erwähnt seien, sind in Herausgeberschaft des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen erschienen. Anders als vielleicht anzunehmen, handelt es sich dabei um keine Ratgeber, die aus Textbausteinen bestehen, wo ein paar Seiten für die einzelnen Länder nur ausgetauscht oder gar überall „rumänisch“ nur durch „italienisch“ ersetzt ist. Beide Leitfäden sind vollständig eigene Publikationen, die sich auf die besonderen Gegebenheiten vor Ort beziehen. Denn gerade zwischen der Situation der rumänischen und jener der italienischen Community Foundations (und nicht nur dort) liegen Welten. Für Rumänien etwa gibt es keinerlei steuerliche Abzugsmöglichkeit für Privatpersonen, das Sponsoringgesetz, das Entsprechendes für Unternehmen erlaubt, ist allerdings noch nicht hinreichend bekannt. Vielsagend, wenn nicht zu viel sagend sind im Rumänien-Band allerdings Information wie die folgende: „Die Bürgerstiftungsbewegung in Rumänien würde nicht das beeindruckende Wachstum haben, wenn sie nicht eng mit internationalen Netzwerken verknüpft wäre.“ „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“ Das Zitat aus Goethes „Torquato Tasso fällt einem überall dort ein, wo hinter vermeintlich hehrem Tun persönliche Interessen oder dickes Eigenlob stehen. Italien braucht diese Netzwerke offenbar nicht. Die italienischen Bürgerstiftungen haben sich bereits eigene Grundsätze gegeben. Sie enthalten Ähnlichkeiten mit den „Merkmalen deutscher Bürgerstiftungen“, sind aber keineswegs identisch. Genau an solchen Stellen sind die Hefte auch für deutsche Bürgerstiftungen interessant. Denn auch Unterschiede können zum Nachdenken anregen und Verbesserungen bewirken.

Bernd Helmig | Silke Boenigk: Nonprofit Management (= Vahlens Handbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften). Verlag Franz Vahlen, München, 2., komplett überarbeitete Auflage 2020. 246 Seiten, 34,90 Euro. 978-3-8006-5179-5.

Über Jahrzehnte blieb professionell geführten Nonprofit-Organisationen nichts anderes übrig, als bei der Aus- und Weiterbildung auf gängige Theorien aus der Betriebswirtschaftslehre zurückzugreifen. Stiftungskommunikation folgte anfangs den Leitlinien der Unternehmenskommunikation, Stiftungsführung jenen der Unternehmensführung. Dabei bestehen zwischen profitorientierten Unternehmen und Nonprofit-Organisationen so gravierende Unterschiede, dass sich Managementmethoden der Wirtschaft allenfalls modifiziert in der Zivilgesellschaft anwenden lassen. Der StiftungsManager, einst als „Rechtshandbuch für Stiftungen“ gegründet, ist ein Beispiel dafür, wie Wissenschaft und Praxis auf die Forderung nach stiftungsadäquaten Managementkonzepten reagieren. Ein zweites Beispiel ist das Weiterbildungsangebot zu zertifizierten Stiftungsmanagerinnen und -managern der Deutschen Stiftungsakademie. Eine dritte

gute Reaktion auf den gestiegenen Bedarf passender Managementgrundsätze ist das Handbuch zum Nonprofit Management von Bernd Helmig (Universität Mannheim) und Silke Boenigk (Universität Hamburg), das jetzt in 2. Auflage vorliegt. In den seit der 1. Auflage vergangenen Jahren hat sich einiges getan im Nonprofit-Sektor. Das Handbuch besticht durch Gliederung und Übersichtlichkeit. Allerdings ist es weiterhin stark am ökonomischen Denken ausgerichtet, was sich vor allem im Kapitel über Nonprofit-Marketing niederschlägt. Das Wort „Öffentlichkeitsarbeit“ existiert nicht. Nach dem Verständnis der Autoren lässt sich offenbar alles in Marketing, Markenstrategien und Markenpersönlichkeiten auflösen. Wo stets der Wettbewerber gesehen wird, bleibt ein schiefes Bild zurück. Doch letztlich ist es besser, die Manager von Stiftungen und anderen Nonprofit-Organisationen lernen die Arbeit anhand von Beispielen von zwei konkurrierenden gemeinnützigen Vereinen kennen als anhand des Kampfes Coca-Cola gegen Pepsi.

Anja Hirsch: Gemeinwohlorientiert und innovativ? Die Förderung politischer Jugendbildung durch unternehmensnahe Stiftungen. Transcript (= Edition Politik Band 87), Bielefeld 2019. 203 Seiten, 49,99 Euro. 978-3-8376-4984-0.

Dieses Buch hat Sprengkraft. Anja Hirsch hat die Aktivitäten unternehmensverbundener Stiftungen im Bereich der Jugendbildung untersucht und kommt zu einem Ergebnis, das Skeptiker schon länger angemerkt haben. Auch dort, wo die Verbindung von Unternehmen und Stiftung nicht augenfällig ist (wie etwa durch Personenidentität in den jeweiligen Leitungsebenen), ist der Einfluss der Unternehmen noch stärker als von vielen befürchtet und von vielen anderen beschwichtigt. Die Autorin nennt viele Beispiele. Die eigentliche Fallstudie ist anonymisiert veröffentlicht. Dazu musste sie leicht verändert werden. Es ist kaum anzunehmen, dass die Doktormutter hier Verzerrungen gestattet hätte, die auf die Schlussfolgerungen abfärben. Wenn es sich aber genauso verhält wie dargestellt, wird der Ton zwischen mancher unternehmensverbundenen Stiftung und dem zuständigen Finanzamt für Körperschaften rauer werden. Oder Attac bekommt im Gegenzug doch wieder die Gemeinnützigkeit zurück.

Janina Salden: Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband zur Zeit des Nationalsozialismus (VSWG-Beiheft 246). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019. 388 Seiten, 64 Euro. 978-3-515-12340-2.

75 Jahre sind seit Kriegsende vergangen, 75 Jahre seit der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur. Niemand, der heute als Angestellter noch in Lohn und Brot steht, hat die Zeit vor 1945 miterlebt, niemand hat persönliche Schuld auf sich geladen. Aber manches Unternehmen, manche Institution, manche Stiftung hat damals bereits existiert, manche Vorgänge- rin in anderer Rechtsform. Auch wenn sich keine Frage der persönlichen Schuld stellt, erwächst aus dem Verhalten in der Vergangenheit eine Verantwortung für die Zukunft, und zumindest dafür ist es ganz gleich, ob man sich heldenhaft oder im Stillen gegen Unrecht zur Wehr gesetzt hat oder unmenschliches Han- deln hingenommen oder begünstigt hat. Nur eines ist nicht mehr zulässig: Dass man kein Wort über die Rolle des eigenen Unternehmens in den zwölf Jahren des „Tausendjährigen Reiches“ verliert. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband ist bis heute der Verband von Sparkassen geblieben, die teilweise selbst in Stiftungsform existieren, die mit ihren zugehörigen Sparkassenstiftungen aber heute die größte Gruppe in der Stiftungsfamilie bilden. Kein Mitglied des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen spricht für so viele Stiftungen wie der DSGV. Allein vor diesem Hintergrund ist die ehrliche Aufarbeitung lesenswert. Der DSGV, der bei der „Machtergreifung“ 1933 bereits sieben Jahre bestand, hat es den neuen Machthabern aus Sicht der Nachgeborenen in vorauseilendem Gehorsam allzu leicht gemacht, eine Gleichschaltung auch im Sparkassenwesen zu vollziehen. Aber es steht niemandem der heute Lebenden an zu richten oder zu verurteilen.

 

 

9. Jun 2021

Neun Neuerscheinungen zur Kartografie

von broemmling

Neuerscheinungen zur Kartografie

Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt sind ein guter Indikator für jene Themen, die  die Gesellschaft bewegen. Förderungen und Buchpreisbindung sind Garanten für ein vielfältiges Angebot, in dem auch in Nischen Bücher erscheinen, die sich nicht rechnen und nie gedruckt würden, setzte man allein auf wirtschaftliche Kriterien. Landkarten und Atlanten erscheinen mit schöner Kontinuität, ganz gleich ob gefördert oder nicht. Gewachsen indes ist das Interesse an der Kartografie selbst, der Wissenschaft von der redaktionellen, gestalterischen und technischen Erstellung von Landkarten, stark gewachsen. Ursprünglich auf Erde und Weltraum beschränkt und harte Fakten fordernd, weichte der Begriff auf. Jeder Grundriss kann heute eine Karte sein, jede selbsterdachte Schatzkarte, so ist auch der Atlas nicht mehr nur eine Sammlung von Landkarten. Schon 1973 erschien The Atlas of World Wildlife, ein Jahr später die deutsche Übersetzung Weltatlas des Tierlebens, wie das Original im Verlag Mitchell Beazley. Da fügt sich der hier ebenfalls besprochene Atlas der Säugetiere nahezu nahtlos ein – nur dass eben deutlich mehr solcher Publikationen erscheinen als vor 50 Jahren. Erst sind alle besprochenen Titel versammelt, dann folgen die einzelnen Besprechungen. 

Passepartout (Hg.): Weltnetzwerke – Weltspiele. Ein Buch und ein Spiel zu Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt. konstanz university press, Göttingen 2021. 349 Seiten, 41,90 EUR.

Thomas Reinertsen Berg: Auf einem Blatt die ganze Welt. Die Geschichte der Landkarten, Globen und ihrer Erfinder. Aus dem Norwegischen von Frank Zuber und Günther Frauenlob. dtv, München 2020, 351 Seiten, 35 EUR.

Atlas der Säugetiere. Schweiz und Liechtenstein. Hg. von der Schweizerischen Gesellschaft für Wildtierbiologie. Haupt Verlag, Bern 2020. 478 Seiten, 99 EUR.

Lukas de Blois | Robartus J. van der Spek: Einführung in die Alte Welt. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019. 419 Seiten, 39 EUR.

Oliver Kann: Karten des Krieges. Deutsche Kartographie und Raumwissen im Ersten Weltkrieg. Brill|Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020. 346 Seiten, 98 EUR.

Jan Schwochow: Die Welt verstehen mit 264 Infografiken. Prestel Verlag, München 2020. 568 Seiten, 59 EUR.

Sandra Rendgen: History of Information Graphics. Taschen Verlag, Köln 2019. 462 Seiten, 70 EUR.

Sabine Graf | Gudrun Fiedler | Michael Hermann (Hg.): 75 Jahre Niedersachsen. Einblicke in seine Geschichte anhand von 75 Dokumenten. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 407 Seiten, 29,90 EUR.

Beatrix Flatt: Grenzenlos. Begegnungen am Grünen Band. Verlag Andreas Reiffer, Meine 2020. 224 Seiten, 20 EUR.

 

Hier die Besprechungen

 

Passepartout (Hg.): Weltnetzwerke – Weltspiele. Ein Buch und ein Spiel zu Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt. konstanz university press, Göttingen 2021. 349 Seiten, 41,90 EUR.

Beginnen wir spielend. „Schach zählt als Sport.“ Der lustigste Satz aus der Abgabenordnung zur Regelung von Gemeinnützigkeit könnte sich nicht nur auf die Turniere und Zweikämpfe beziehen, die es bei Schachmeisterschaften gibt. Das Schachbrett ist die abstrahierte Karte eines Schlachtfeldes. Wer spielt, taucht ein in eine andere Welt, und das Spielbrett ist Karte, die hilft, sich in der unbekanntene Welt zurechtzufinden. Manchmal ist die Karte der Phantasie entsprungen, beim Spiel Sagaland zum Beispiel, oft genug ist es unsere Erde, wie bei Weltreise oder Deutschlandreise. Verspielt um die ganze Welt kommt man nicht allein mit Risiko, einem Spiel, das nicht unbedingt Spielfreude und Intellekt schult, sondern aus jedem Spieler einen Angriffskrieger macht. In einem auf Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt aufbauenden Spiel haben vier Mitspielende  besondere Rollen mit jeweils speziellem Expeditionsziel: Phileas Fogg will alles pünktlich erledigen, Passepartout kann es nicht schnell genug gehen, Detektiv Fix sabotiert, um die Gruppe aufzuhalten, auch Jules Verne ist dabei: Die Wette, die hier gerade läuft, betrifft die Reisegesellschaft, und Jules Vernes will einen möglichst genauen Ausgang der Wette erreichen. Der Begleitband zieht Verbindungslinien von der Physik zum Spiel und vom Spielplan zur Karte. Was hätte wohl der tatsächliche Jules Verne gesagt, hätte man ihn zu Lebzeiten ans Spielbrett gelassen? Vermutlich hätte auch er noch einiges gelernt in diesem klugen, aber nicht neunmalklugen Spiel. Bildung und gute Unterhaltung widersprechen sich nicht. Der Lernfortschritt ist immens, ach was, „Lernfortschritt“: Man sollte fairerweise von einem Erkenntnisgewinn sprechen. So braucht man keineswegs Jules Verne gelesen zu haben, um den Spieleabend mit Vergnügen zu erleben. Aber es schadet eben auch nicht, denn in den Einzelheiten der Reise, auf die sich die Spieler begeben, sind viele Einzelheiten und Projekte liebevoll versteckt.

 

Thomas Reinertsen Berg: Auf einem Blatt die ganze Welt. Die Geschichte der Landkarten, Globen und ihrer Erfinder. Aus dem Norwegischen von Frank Zuber und Günther Frauenlob. dtv, München 2020, 351 Seiten, 35 EUR.

Manchmal kommt wirklich Gutes aus Norwegen, Thomas Reinertsen Berg jedenfalls hat schon 2018 das ultimative Buch zum Thema Kartografie geschrieben, zunächst nur für jene, die des Norwegischen mächtig waren. Ende 2020 brachte es dann dtv in deutscher Übersetzung heraus. Der Norweger berichtet einleitend von seiner Faszination für Karten, Globen und Atlanten, um dann gleich in die Geschichte einzusteigen. Er erklärt die ersten Weltbilder, nennt die Namen der Gelehrten und Reisenden (meist sind es reisende Gelehrte), die Neues entdeckten und Beiträge zur Kartografie leisteten. Auch die Skepsis begleitet er, den Zweifel der anderen, kunstvoll zum Ausdruck gebracht schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert durch Aristophanes in seiner Komödie Die Wolken. Früh setzt die Propaganda ein: Der Autor zitiert Eusebius, der seinen Schülern 290 n. Chr. freudig eine Karte des Römischen Reiches vorlegte mit dem Kommentar, es sei ein Genuss draufzuschauen, weil man nichts sehe, was nicht einem selbst gehört. Da ist es schon nicht mehr weit zu Augustinus und Isidor von Sevilla. Schließlich bekommt der große Gerhard Mercator seinen Auftritt, wenn auch in der deutschen Übersetzung zuweilen ein bisschen stolpernd: Kurz nachdem Europa fertig war, erlitt Mercator einen Schlaganfall, in dessen Folge er linksseitig gelähmt wurde. Aber Thomas Reinertsen Berg mag die Menschen des 15. und 16. Jahrhunderts, das ist ihm anzumerken. So ausführlich, dabei an keiner Stelle langweilig erzählt er sonst nur, wenn er zu norwegischen Helden zurückkehrt, zu Roald Amundsen oder zu Fritjof Nansen. Wunderschön mit vielen Karten – womit sonst – gestaltet, lädt das Buch zum entspannten Lesen und Betrachten.

 

Atlas der Säugetiere. Schweiz und Liechtenstein. Hg. von der Schweizerischen Gesellschaft für Wildtierbiologie. Haupt Verlag, Bern 2020. 478 Seiten, 99 EUR.

Seit Gerhard Mercator bezeichnet der Begriff ein Sammelwerk von Karten. Der Atlas der Säugetiere (Schweiz und Liechtenstein) ist neu im Haupt Verlag und soll als weiteres Beispiel zeigen, was Kartografie alles leistet. Hier ist das Vorkommen aller Säugetiere der Region kartografiert. Neben der in eine Karte eingezeichnete Verbreitung sind zu jeder Art Informationen zu Aussehen, Biologie, Lebensraum und Schutz versammelt. Ein feiner Seitenarm der Kartoografie, die hier dem Tier- und Naturschutz dient.

 

Lukas de Blois | Robartus J. van der Spek: Einführung in die Alte Welt. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019. 419 Seiten, 39 EUR.

Zurück zu den eigentlichen Orten. Ort vor Zeit. Das ist so eine der Formeln, die ich aus dem Lateinunterricht behalten habe. Im Englischen ist es nicht anders. Die Zeit lässt sich recht konkret abbilden. Orte sind da schwieriger zu beschreiben. Wir brauchen gar nicht erst mit der Heisenbergschen Unschärferelation von 1926 zu kommen, nach der man nicht Ort und Geschwindigkeit eines Gegenstandes gleichzeitig bestimmen kann. Geografisches, historisches und politisches Verständnis war kaum möglich ohne Kartenmaterial. Schwer vorstellbar für viele, dass es heute keinen Kartenraum in den Schulen mehr gibt. Hier lagerten seit Jahrzehnten alte Karten, die in den Fächern Geschichte und Erdkunde an so genannten Kartenständern hingen. Dass auch heute Karten unverzichtbar für die Vermittlung von Geschichte sind, zeigt die Einführung in die Alte Welt von Kukas de Blois und Robartus J. van der Spek. Das Standardwerk ist nun in erweiterter Fassung erschienen. Der Vertiefung oder Erläuterung dienen 20 Übersichten, 92 Abbildungen (zumeist Fotos), 6 Schemata und 33 Karten. Was hier Schema heißt, ist für andere eine Infografik, im weitesten Sinne also eine Karte. Aber auch die 33 Karten und ihr Verhältnis zu den Abbildungen zeigen den Nutzen von Karten für das Verständnis von Geschichte. Die Verweildauer bei einer kartografischen Abbildung liegt um ein Vielfaches höher als die Betrachtungsdauer eines Fotos. Karten sprechen an und haben einen ästhetischen Wert, sonst hätte man wohl eher das Foto eines Tempels für den Titel gewählt. Den schmückt aber die Karte des Römischen Reiches von Julius Perthes aus dem Jahr 1772. Und lesenswert ist das Buch obendrein.

 

Oliver Kann: Karten des Krieges. Deutsche Kartographie und Raumwissen im Ersten Weltkrieg. Brill|Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020. 346 Seiten, 98 EUR.

Will man die Bedeutung der Kartografie im Lauf der Geschichte beschreiben, kommt man auch in einer Kurzfassung an Krieg und Frieden nicht vorbei. Verlässliche Karten erhielten den Frieden, schlechte konnten Kriege auslösen. Wer Grenzen verletzte, mochte sich vielleicht mit dem Hinweis auf eine ungenaue Karte herausreden – zuweilen war es dafür schon zu spät. Nicht minder bedeutend war die Kartografie bei der Kriegsführung. Ein genauer Frontverlauf ließ sich eben nur auf einer Karte abbilden, für epische Erläuterungen ist abgesehen von der Gefahr von Missverständnissen keine Zeit. In seinem Buch über Karten des Krieges beschäftigt sich Oliver Kann mit dem Beitrag der Deutschen Kartografie zum Ersten Weltkrieg. Die Geschichtswissenschaft beschränkt sich dafür nicht auf die unmittelbare militärische Nutzung. Karten waren immer auch ein Mittel der Politik – ihrer schönen Seiten Information und Transparenz genauso wie ihrer hässlichen Manipulation und Propaganda. Die Geschichte der Kartografie ist daher immer auch Wissensgeschichte. Oliver Kann zeigt, wie in Deutschland die Verantwortung für Kartografie bei jenen lag, die militärische Interesse verfolgten; später waren Karten auch von wirtschaftlichen Interessen geprägt. Der Krieg an der Westfront im Ersten Weltkrieg offenbarte die Unzulänglichkeit der bisherigen Karten. Das Vermessungswesen band nun auch den einzelnen Soldaten als Lieferanten von Information ein. Besonders lesenswert, nicht zuletzt weil wir unsere eigenen Erfahrungen aus der Gegenwart damit vergleichen können, ist Kanns Schilderung des tendenziösen Einsatzes von Karten und die Vermittlung von Raumwissen, Kartenkunde und Orientierungsfertigkeiten an der „Heimatfront“. Heute müssten wir im Kriegsfall, der hoffentlich nie eintritt, bei der Zeitungslektüre auf Überschriften gefasst sein wie Gebietsverluste durch WLAN-Ausfall.  Aber auch heute wirken die alten Karten noch, zur Information wie zu ihrem Gegenteil. Ist eigentlich eine Generation, die keine Karte mehr lesen kann, leichter zu manipulieren als eine, die es konnte? Das muss offen bleiben. Hier sei der letzte Satz aus Oliver Kanns Untersuchung zitiert: Am Ende sind die Karten des Krieges doch langlebiger als es ihre Erschaffer damals vermutet hätten.

 

Jan Schwochow: Die Welt verstehen mit 264 Infografiken. Prestel Verlag, München 2020. 568 Seiten, 59 EUR.

Jan Schwochow berichtet in der Frühlingsausgabe von VIERVIERTELKULT, wie er Infografiker wurde, was Infografik und Kartografie gemeinsam ist und was sie trennt. Der Infografiker zählt meist noch eine zusätzliche Geschichte mit seiner Grafik; aber weniger genau als eine Karte sollte auch eine Infografik nicht sein. 264 Infografiken hat der Autor in seinem beim Prestel-Verlag erschienenen großen Buch versammelt, fünf davon sind in VIERVIERTELKULT abgedruckt, darunter auch jene über die Berliner Mauer, auf der Jan Schwochow die zahlreichen Fehler der offiziellen Karten korrigierte oder besser: sie nicht übernahm. Natürlich fällt die Auswahl schwer: Was wird die Leserin besonders interessant finden? Welche Infografiken würde der Leser womöglich überblättern? Viele Infografiken haben Landkarten als Grundlage, Geteilte Inseln zum Beispiel, Islam und Entdeckung Südpol. Wer sich den Band genau anschaut, entdeckt noch einen Leckerbissen zum Thema: Über gleich zwei Doppelseiten erstreckt sich, kein Scherz, die Infografik Kartografie – Projektionen. Hier schließt sich der Kreis. Wer sich das Buch besorgt, schaue gleich auf die Seiten 476-479. Es lohnt sich. Es lohnte sich auch sonst.

 

Sandra Rendgen: History of Information Graphics. Taschen Verlag, Köln 2019. 462 Seiten, 70 EUR.

246 Infografiken selbst zu erstellen, ist keine geringe Leistung. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn wir zum Standardwerk zur Infografik greifen, das auch eine Geschichte der Infografik ist. Den Band von Sandra Rendgen hatte ich schon im Winterheft 2019 von VIERVIERTELKULT besprochen. Aber zur Übersicht über aktuelle Literatur zum Thema gehört er zwingend, daher sei mein Text hier zitiert: Die Welt um 1800 mochte weniger komplex gewesen sein als unsere. Doch zu Erklärbildern greift man, seit man zeichnen kann. Auch Goethes Zeichnung des von ihm entdeckten Zwischenkieferknochens ist in gewisser Art eine Infografik. In einem großformatigen Buch erzählt Sandra Rendgen die Geschichte der Infografik. Die Lektüre wird zur vielfältigen Reise, unter anderem in die eigene Kindheit, und das nicht, weil die Dreisprachigkeit immer an den schlecht gebundenen Reiseführer der Akropolis erinnert, den man vor Ort gekauft hatte. In diesem hochwertigen Band sind viele Bilder versammelt, die man zum ersten Mal in der Schule sah und die nun einen logischen Zusammenhang erhalten: Dürers Nashorn von 1515, der katalanische Weltatlas von 1375, Emma Willards Tempel der Zeit aus dem Jahr 1846, vereint mit neuesten Infographiken. Die klugen Texte sind aus US-amerikanischer Perspektive geschrieben. Das ist kein Nachteil, sondern erweitert den Horizont zusätzlich.

 

Sabine Graf | Gudrun Fiedler | Michael Hermann (Hg.): 75 Jahre Niedersachsen. Einblicke in seine Geschichte anhand von 75 Dokumenten. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 407 Seiten, 29,90 EUR.

Sechs Bilder sind auf dem vorderen Cover jenes Buches auszumachen, das 75 Jahre Niedersachsen feiern soll. Bei drei der sechs Illustrationen handelt es sich um Karten, und im Vorsatz ist gleich noch einmal eine Karte des Landes Niedersachsen von 1947 Regierungs- und Verwaltungsbezirke gab es im jungen Niedersachsen noch, auch das ist schon wieder Geschichte. Der Titel ist geschummelt, denn bei weitem nicht alle Beiträge kommem mit einem Dokument aus. Eine handkolorierte Karte der Kreisverwaltung Osnabrück fällt ins Auge. Auch für den Küstenschutz vor und nach der Sturmflut dient eine Karte als Illustration, der Generalplan für den Deichschutz des Deichverbandes Südkehdingen im Raum Stade/Bützfleth bis zur Sturmflut vom Februar 1962. Interessant schließlich auch die Industrie-Entwicklungspläne vom Dezember 1946. Die beste Karte kommt gleich im 1. Kapitel: eine Karteenskizze, mit der die Nähe Schaumburg-Lippes zu Hannover deutlich gemacht werden sollte.

 

Beatrix Flatt: Grenzenlos. Begegnungen am Grünen Band. Verlag Andreas Reiffer, Meine 2020. 224 Seiten, 20 EUR.

Wie sich die Zeiten ändern! Wanderungen auf dem Todesstreifen hätte ein Buch vor 30 Jahren geheißen, das jetzt den Titel Grenzenlos – Begegnungen am Grünen Band trägt. Beatrix Flatt ist den ehemaligen Todesstreifen vom Dreiländereck bei Hof bis zur Ostsee entlanggegangen und erzählt von besonderen Bauwerken und sonderlichen Geschichten, die sich links und rechts dieser Wegmarke nacherzählt oder beschreibt. Für jede Einzelne ist etwas Neues dabei, meist sogar in der eigenen Umgebung – vorausgesetzt, man wohnt in der Nähe der deutsch-deutschen Grenze. Kennen Sie zum Beispiel das Diakonissen-Mutterhaus in Elbingerode im Harz? Kannte ich zumindest nicht. Man wird schwerlich wissen, was vor fast 100 Jahren unter den Kirchsaal gebaut wurde, um überschüssigen Dampf zu nutzen: Ein Schwimmbad! Es sind viele solcher Geschichten im Buch zu entdecken. Für VIERVIERTELKULT hat die Autorin schon im Winterheft 2013 über Christopher Nimz, Anne Heinemann und jung klasse KLASSIK geschrieben. Auch ihr neues Buch ist sauber recherchiert. Allerdings müsste man das ganze Grüne Band abgeschritten haben, wolle man Ungenauigkeiten in der Darstellung völlig ausschließen.

31. Mai 2021

Kurzkritik Schubenz: Der Wald in der Literatur

von broemmling

Klara Schubenz: Der Wald in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Geschichte einer romantisch-realistischen Ressource. konstanz university press, Göttingen 2020. 505 Seiten, 39,00 EUR.

Mit den Grimm‘schen Kinder- und Hausmärchen beginnt Klara Schubenz ihr Buch über den deutschen Wald. Der Wald ist nicht nur als Ressource für die Holzwirtschaft zu sehen, der wir den Begriff der Nachhaltigkeit verdanken. Er dient auch als Rohstoff, als Bodenschatz für abertausende von literarischen Texten. Zumindest was die großen Werke des 19. Jahrhunderts betrifft, hat die Autorin nachhaltig im anderen Sinne gehandelt: Bei der Lektüre hat man den Eindruck, über dieses Thema sei man nun dauerhaft informiert, hier bleiben keine Fragen offen. Der Wald als Erinnerungsort der Vorzeit, die Märchen als Erzählungen aus der Kindheit des Menschseins und gleichzeitig als Wirtschaftsfaktor. Dass beides nebeneinander existieren kann, zeigt Schubenz an Stifters Waldbrunnen und vielen weiteren Texten. Wer ihr Buch von Anfang bis Ende liest, und der flüssige Stil macht die Lektüre leicht, hat den Wald verstanden. Wir brauchen nur den Dichtern und Denkerinnen zuzuhören, um der Natur die nötige Achtung entgegenzubringen.

20. Mai 2021

Kurzkritik Herbarium Blackwellianum

von broemmling

Dominic Olariu: Das Herbarium Blackwellianum. Das meisterhafte Pflanzenbuch der außergewöhnlichen Elizabeth Blackwell. wbg Edition, Darmstadt 2020. 460 Seiten, 120 EUR.

Meisterhaft und außergewöhnlich. Wenn Verlage ihre Publikationen bewerben, kommen wir uns zuweilen vor wie auf dem Jahrmarkt. Die Adjektive spannend und wichtig haben einen ähnlichen Aussagewert wie ständige Superlative und Konstruktionen mit sehr. Da sind wir versucht, auch meisterhaft und außergewöhnlich für übertrieben und marktschreierisch zu halten. Die Lektüre bereits der ersten Seiten zeigt uns: Wir haben uns geirrt. Der Kunsthistoriker Dominic Olariu erzählt einführend Die Geschichte hinter dem Buch. Ein unglaubliches Abenteuer. Und auch hier werden wir bald sehen, dass der Autor den Mund nicht zu voll genommen hat. Die ganze Geschichte möge jeder selbst lesen, nur so viel: Ab 1737 gab die Schottin Elizabeth Blackwell eine Reihe von Publikationen heraus, die zusammengenommen ein umfassendes illustriertes Heilkräuterhandbuch bildeten. Kupferstiche der Textseiten verfasste die Schottin dabei ebenso wie die Zeichnungen der Pflanzen. Das Werk erfreute sich einer solchen Nachfrage, dass es in kurzer Zeit in mehreren Auflagen gedruckt wurde. Elizabeth Blackwell konnte mit den Gewinnen ihren Mann aus dem Schuldenturm erlösen. Wer Herbarien und andere Pflanzenbücher schätzt, kommt an diesem Faksimile nicht vorbei. Eines der ersten Pflanzenbücher, die je von einer Frau verfasst worden sind, ist bis heute eines der prachtvollsten geblieben.

17. Mai 2021

Kurzkritik Lindner: Aufrüstung – Ausbeutung – Auschwitz (I.G.Farben)

von broemmling

Stephan H. Lindner: Aufrüstung – Ausbeutung – Auschwitz. Eine Geschichte des I.G.Farben-Prozesses. Wallstein, Göttingen 2021. 339 Seiten, 36 EUR.

Begeistert lobte der Rezensent der Süddeutschen Zeitung am 6. August 2011 das neue Buch von Diarmuid Jeffreys über die Geschichte der I.G.Farben als eine der besten Bücher zur Wirtschaftsgeschichte Europas. Der britische Journalist hatte sauber gearbeitet und auf 700 Seiten die Verbrechen der deutschen Chemieindustrie beschrieben, die mit ihrer Produktion für Krieg und Zwangsarbeit mitverantwortlich waren. Nach der Lektüre des Wälzers konnte man sich kaum vorstellen, dass noch etwas offen war. Das dachte zumindest der Rezensent. Der Rezensent war ich.
So war ich zunächst skeptisch, als ich von einem weiteren Buch erfuhr, das sich mit den I.G.Farben befasste. Meine Zweifel am etwaigen Mehrwert einer Lektüre waren schnell verflogen; hier bekommen wir eine wissenschaftlich-kritische Analyse der Aufarbeitung dessen, was der Konzern und seine Manager zwischen 1933 und 1945 getan hatten und wofür sie zur Verantwortung gezogen wurden.
„Aufarbeitung“ wäre eigentlich ein guter Titel gewesen. Vielleicht, wenn es denn ein Trio sein muss, „Abfüllung – Anklage – Ausreden“. Denn der tatsächliche Titel hätte zu einem Buch über die Geschichte des I.G.Farben gepasst, wir haben es aber mit der Geschichte des Prozesses zu tun, den das amerikanische Militärgericht 1947 in Nürnberg gegen 24 Manager des Konzerns führte. Und genau diese Geschichte erzählt uns der Autor, Geschichtsprofessor an der Universität der Bundeswehr in München, noch einmal fast neu. In den Text sind nicht nur die gewohnten Quellen wie Prozessunterlagen geflossen; Lindner hat darüber hinaus Nachlässe von Angeklagten und ihren Verteidigern, von Anklägern und Richtern ausgewertet. Interessant ist dabei gerade, was im Prozess fehlte oder falsch lief. Die amerikanischen Militärbehörden versagten den amerikanischen Anklägern in mehreren Fällen notwendige Unterstützung. Dass etwa die junge Anwältin Sally Falk Zeck genau aus diesem Grund frustriert aufgab und in die USA zurückflog, ist nur eines von vielen Beispielen für die schwierigen Voraussetzungen des Prozesses. Zweifel gab es auch an der Zulässigkeit des Verfahrens an sich: Es war nicht erlaubt, Unternehmen als Ganzes anzuklagen. Im Inhaltsverzeichnis der Anklageschrift gegen die 24 Manager stand aber kein einziger Personenname, sondern immer nur „die IG“. Noch viele weitere Mängel zeigt der Autor und sucht nach Erklärungen. Er ergreift nicht Partei, sondern zitiert Ankläger und Angeklagte gleichermaßen, ohne zu relativieren oder gar zu verharmlosen. Dass das Buch dabei auf übermäßige Adjektive verzichtet – Diarmuid Jeffreys etwa hatte gleich mehrfach vom „berühmten“ Nürnberger Prozess im Jahr zuvor, das würde Stephen H. Lindner nicht einfallen – macht das Buch noch besser lesbar.

7. Apr 2021

In memoriam: Hans Küng

von broemmling

Am 6. April 2021, Dienstag nach Ostern, ist Hans Küng gestorben. Am 6. November 2010 hatte ich im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung sein Buch Anständig wirtschaften unter dem Titel Geschäfte ohne Moral besprochen (einer der wenigen Fälle, in denen der Redakteur meinen Vorschlag für die Überschrift nicht akzeptierte; ich hatte Ökonom sein vorgeschlagen – in Anlehnung an Küngs Buch Christ sein). Zwei Wochen später war Post von Hans Küng in meinem Berliner Briefkasten. Der Autor hatte eines seiner Bücher geschickt – mit freundlichster Widmung: Für Ulrich Brömmling mit herzlichem Dank für seine sehr hilfreiche Besprechung. 16.11.2010. Hans Küng.

Die Besprechung ist mit vielen anderen meiner Rezensionen in der SZ abgedruckt in Das Wirtschaftsbuch. Annäherungen an die Ökonomie in der Süddeutschen Zeitung. Siegburg 2013.

Vor dem Text der Rezension noch ein Gedanke. Hans-Jochen Vogel + 26. Juli 2020, Winfrid Frhr. v. Pölnitz von und zu Egloffstein + 19. März 2021, Hans Küng + 6. April 2021: In Jahresfrist sind drei Persönlichkeiten gestorben, zu denen ich so ziemlich ohne Einschränkungen aufgeblickt habe. Während sich die Erde erwärmt, kühlt die Menschheit immer weiter ab.

Hans Küng: Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht. Piper Verlag, München 2010, 342 Seiten. 19,95 Euro.

Wir kennen Hans Küng als großen Theologen. „Christ sein“ heißt sein bedeutendstes Werk. Wir kennen Hans Küng als großen Ethiker. Die Stiftung Weltethos geht auf seine Initiative zurück. Nun lernen wir Hans Küng als großen Ökonomen kennen, der eine neue, ethisch fundierte Weltordnungspolitik entwirft.

Küng breitet das gesamte Spektrum der Volkswirtschaftslehre aus und dringt von dort bin in die Mikroökonomie vor. Wo der Theologe spricht, kann Milton Friedmans freche These, die moralische Pflicht des Unternehmers reduziere sich auf die Profitsteigerung, nicht gelten. Doch auch über die anderen Wirtschaftsphilosophen weist Küng hinaus.

Individuelle, sittliche Autonomie, wie sie Friedrich von Hayek propagierte, genügt nicht. Ebenso wenig taugt für Küngs neues Wirtschaftsethos John Maynard Keynes, der den Kapitalismus als Religion verachtete, als Glauben, dass die widerwärtigsten Männer aufgrund der widerwärtigsten Motive irgendwie für den Nutzen aller arbeiteten.

Das Manifest „Globales Wirtschaftsethos – Konsequenzen für die Weltwirtschaft“ hat Küng gemeinsam mit dem Wirtschaftsethiker Josef Wieland und dem ökosozialen Unternehmer Klaus Leisinger verfasst und bereits im Frühjahr des vergangenen Jahres veröffentlicht. Der ehemalige Präsident der Weltbank James D. Wolfensohn gehört zu den 21 Erstunterzeichnern, ebenso Prinz El Hassan bin Talal von Jordanien und der Theologe Leonardo Boff. Küng weiß den UN Global Compact hinter sich, der sich in gleicher Weise wie das Manifest für Menschenrechte, Arbeitsstandards, Umweltschutz, Korruptionsbekämpfung einsetzt.

Wer handelt im ökonomischen Alltag im Sinne einer ethischen Weltordnung? Küng beruhigt den Leser: Es sind mehr, als man annimmt. Und es ist kein Zufall, dass er als Musterbeispiel verantwortungsvollen Wirtschaftens Karl Konrad Graf von der Groeben anführt. Der half nicht nur Küngs Stiftung Weltethos auf den Weg, sondern unterstützte auch andere Stiftungsprojekte. Für den Grafen beschränkte sich Wirtschaften eben nicht auf Profitmaximierung: Er trug Gandhis „Sieben Todsünden in der heutigen Welt“ stets bei sich. Hierzu zählt neben „Reichtum ohne Arbeit“ und „Genuss ohne Gewissen“ auch die häufigste Sünde der Ökonomie: „Geschäft ohne Moral“.

Küng ist nicht Prediger der Sanftmut: Härte gehört zum Geschäft, Führungsstärke allemal. Aber es sind Geist, Herz und Haltung, die heute so wichtig geworden sind. Das gelingt nicht mit Hilfe von Unternehmensberatern – Küng zitiert die Klage von der egoistischen Karrieremanie der Machiavelli-Kurse für Manager. Küng fordert ein globales „Menschheitsethos“ für die Wirtschaft, das die Einigung auf kulturübergreifende Normen braucht. Er beschränkt die Gebote und Werte auf vier Imperative der Menschlichkeit, die auch in der Wirtschaft gelten müssen: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen und Sexualität nicht missbrauchen.

Auch Letzteres ist durchaus ein Gebot der Wirtschaft, denn es geht auch um Entwürdigung, Erniedrigung und Schändung, und Küng leitet über zu den weltethischen Kernnormen Humanität und Gegenseitigkeit. Das Manifest für ein globales Wirtschaftsethos wird deshalb erfolgreich sein – da ist sich Küng sicher – weil es auf uralten Erfahrungen der Menschen fußt. Eine Handlungsempfehlung für Führungskräfte, aber auch für jeden Einzelnen im Team ist entstanden. So dicht geschrieben, wie es irgend ging. Küng ist mit seiner Mahnung ein Werk gelungen, das ähnliche Bedeutung erlangen könnte wie „Christ sein“ – wenn es nicht, was zu befürchten ist, in der Fülle der Literatur sehr unterschiedlichen Niveaus zu Wirtschaftskrise, Führung und Moral untergeht.

 

3. Apr 2021

Neue Nachlieferung im StiftungsManager. Aussortierte Kurzkritik Borgolte hier

von broemmling

Am Karsamstag kam die neue Nachlieferung des Erich Schmidt Verlags für den StiftungsManager. Da die Abonnenten leider meine Besprechungen der Vorlieferung aussortieren müssen, bevor sie die neuen einfügen, kommen die nunmehr aussortierten oder einige von ihnen zuweilen in den Blog. Michael Borgoltes Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte lohnt sich wirklich.

Michael Borgolte: Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte. Von 3000 v.u.Z. bin 1500 u.Z. Verlag WBG, Darmstadt 2017. 728 Seiten, 79,95, 63,96 € für wbg-Mitglieder. 978-3-534-26962-4.

Es sei, das ist bei Rezensionen unüblich, diesem Werk vorausgeschickt: Es kommt vor, dass ein Rezensent bedauert, ein Werk nicht Seite für Seite wiedergeben zu können. In diesem Fall ist des Michael Borgoltes Weltgeschichte, die er als Stiftungsgeschichte darstellt. Zugegeben: Der Rezensent hat in seiuner Dissertation selbst einen altnordischen Runenstein zum Ursprung des norwegischen Stiftungswesens erklärt. Aber wie breit lässt sich stifterisches Tun tatsächlich fassen? Ist alles, was Besitzverzicht ist, gleichzeitig auch stifterisches Engagement? Dem Historiker Michael Borgolte jedenfalls gelingt ein Parforceritt durch die Geschichte, angefangen im Jahr 3000 vor Christus oder vor unserer Zeitrechnung, und immer wieder kann er stifterisches Engagement belegen. Natürlich ist es immer und in jeder Epoche neu die Frage, was Stiften beinhaltet und ob sich der vermeintliche Stifter dem Wesen seiner ebenso vermeintlich stifterischen Tat bewusst war. Deswegen nennt der Autor die beiden Begriffe „Stifter“ und „Stiftungspolitiker“. Jedes Vermächtnis, und sei es auch nur das „einiger Häuser gegenüber der Synagoge und eine Reihe hebräischer Bücher“ sieht der Autor als stiftungsartig. Wer die Beliebigkeit kennt, mit der heute bereits Stiftungen auf Zeit und Stiftungsdarlehen als Stiftungen gerechnet werden, hat bei dieser Argumentation keinen Zweifel. Und auch wer Zweifel hat, ist imponiert von der Fülle der Beispiele, die der Autor dem Leser aus 45 Jahrhunderten präsentiert. Von Anfang bis Ende ein lesenswertes Buch ohne Ärgernis.

 

16. Mrz 2021

Kurzkritik 100 Jahre LANV

von broemmling

So muss eine Festschrift sein. Diesem Buch merkt man auf den ersten Blick nicht an, dass es sich um das Auftragswerk eines Verbandes zu dessen 100-jährigem Bestehen handelt, ein Jubel-Jubiläumsband also. Und das, obwohl Auftrag und Anlass klar benannt sind. Nach der Lektüre ist man um viele Erkenntnisse reicher, ohne das Gefühl zu haben, man sei hier einem Propagandabuch auf den Leim gegangen. Wie funktioniert das?

Jürgen Schremser und Toni Büchel haben bei der Konzeption und Redaktion des Werkes auf die richtige Mischung geachtet: nicht zu viel Verband, aber auch nicht zu wenig, bereichert um übergeordnete Themen, alles durchzogen von einer Zeitleiste, die über Beschlüsse, Entwicklungen und Ereignisse aus 100 Jahren LANV informiert. Aus Gesprächen der Redakteure (in Liechtenstein ist der Redakteur ein Redaktor) mit zentralen Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, Gewerkschaft und Verwaltung stammen die Zitate, die ebenfalls über das ganze Buch verteilt sind. So trotzen Autorinnen und Autoren wie Gestalter erfolgreich der Gefahr, dass eine 100-jährige Verbandsgeschichte sich schnell so dröge liest wie die Satzung einer Kleingartenkolonie.

Ein einziger Kritikpunkt meldet sich gleich beim Aufschlagen des Buches und will einen nur schwer verlassen. Auch wenn es ein Jubiläumsbuch ist und man den Verband natürlich nicht in schlechtes Licht setzen will, wirkt es an einigen Stellen doch eine Nuance zu glatt. Das fällt eigentlich nur bei einem Thema auf. Gleichen Lohn für gleiche Arbeit wie die der männlichen Kollegen bekommen die Arbeitnehmerinnen in Liechtenstein bis heute nicht (das ist leider auch in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich nicht anders). Doch schon durch den Titel gewinnt man den flüchtigen Eindruck, im fortschrittlichen Liechtenstein seien schon vor 100 Jahren die Frauen gleichberechtigt gewesen. 100 Jahre Liechtensteinischer ArbeitnehmerInnenverband LANV? Das klingt sympathisch und aufgeschlossen. Wenige Seiten später erfährt man dann aber doch, dass die Frauen erst 82 Jahre nach Gründung im Verbandsnamen sichtbar wurden, Ergebnis der Bemühungen einer fünf Jahre zuvor, 1997, gegründeten Frauengruppe. Auch im Verband ist der Weg nach oben offenbar nicht ohne Hürden: Bislang hatte der LANV in den ersten 100 Jahren seines Bestehens erst eine Präsidentin, Alice Fehr. Die übrigen Präsidenten und sämtliche Vizepräsidenten: alles Männer. Aber dafür kann schließlich das Buch nichts.

100 Jahre Liechtensteienischer ArbeitnehmerInnenverband LANV 1920-2020. BVD, Schaan 2020. 123 Seiten.

10. Jan 2021

Kurzkritik Beckmann|Walter: Email-Korrespondenz

von broemmling

Ausgelesen! Digitalisierung war einer der Schwerpunkte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020. Der technische Fortschritt hat ein Tempo erreicht, mit dem nicht jeder Schritt halten kann. Man profitiert von den neuesten Entwicklungen umso stärker, je sicherer man sich auf den Einstiegsmedien bewegt. Grobe Schnitzer aber sind bei vielen auch heute noch beim Schreiben von E-Mails, beim Surfen im Internet, bei Kurznachrichten welchen Anbieters auch immer an der Tagesordnung. Da scheint ein kleiner Leitfaden zur E-Mail-Korrespondenz. Juristisch und sprachlich korrekt eine sinnvolle Hilfestellung zu sein. Der in der Reihe Beck kompakt erschienene Leitfaden erfüllt die Erwartungen – allerdings mit Einschränkungen. Doch wer kritisch liest und bei den einzelnen Hinweisen darüber nachdenkt, welcher Formulierungsvorschlag für die eigene Arbeit passt, wird das Büchlein gut nutzen können. Das beste Argument für dieses Buch: Die 127 Seiten enthalten alle großen Fragen, die der Gebrauch von E-Mails aufwirft. Das beste Argument dagegen: Die Antworten werden in nicht wenigen Fällen nicht auf die eigene Arbeitssituation passen. Das beginnt bei der Anrede. Die Autoren weisen zwar auf die Notwendigkeit zielgruppengerechter Anrede hin. Die dafür gelieferten Vorschläge sollte man jedoch für bestimmte Zielgruppen, etwa für Adressaten im Stiftungswesen, nicht – oder zumindest nicht gedankenlos – übernehmen. Zu oft gilt im Büchlein Hallo als passend, dabei empfinden einige Stifter:innen und Stiftungsvertreter:innen jedes Hallo in der Anrede wahlweise als indiskutabel, frech oder übergriffig. Die Anredeform Liebe/r dagegen ist in der Stiftungskorrespondenz deutlich häufiger als es hier den Eindruck erweckt. Schlicht falsch ist die Information, nach der Änderung des Personenstandsgesetzes könne ab 1. Januar 2019 ins Personenstandsregister auch diverses eingetragen werden. Das klingt ignorant und ist misslich; denn weiterhin generisches Maskulinum verwenden können allenfalls jene, die sich mit dem Diskurs zur gendergerechten Sprache zumindest ernsthaft auseinandergesetzt haben. Da kommen im Falle der Autoren Zweifel auf. Dass das Gendersternchen für Diversität steht, weil es die LGBTIQA+-Community einbezieht, erfährt man zumindest aus diesem Buch nicht. Zum Gebrauch geschlechterneutraler Anrede durch die Nennung von Vor- und Zunamen regen die Autoren an, ohne auf ein mögliches datenschutzrechtliches Risiko hinzuweisen. Dafür übernehmen sie kritiklos die Versatzform Studierende, obwohl das Wort etwas anderes bezeichnet als Studentinnen und Studenten. Auch die Hinweise zu Einfacher und Leichter Sprache sind missverständlich. Leichte Sprache ist zumindest nach Definition des Vereins Netzwerk Leichte Sprache kein Ersatz für den ursprünglichen Text, sondern kann nur zusätzliches Angebot sein. Doch wegen vieler grundsätzlicher Hinweise zum Verfassen von E-Mails, zum Erscheinungsbild, zur Rechtsverbindlichkeit und zu Schreibweisen ist das Büchlein zu empfehlen; es gibt in dieser Kürze kaum Alternativen.

Edmund Beckmann | Steffen Walter: E-Mail-Korrespondenz. Juristisch und sprachlich korrekt. Verlag C. H. Beck, München 2019. 127 Seiten, 7,90 Euro. 978-3-406-73685-8.