Rezension Frick|Grütter: Abbreviatio
Julia Frick | Oliver Grütter (Hg.): Abbreviatio. Historische Perspektiven auf ein rhetorisch-poetisches Prinzip. Schwabe Verlag, Basel 2021. 470 Seiten, 74 EUR.
Wieder ist eine Erkenntnis aufgegeben: Ein Text ist nach Kürzung und Straffung besser lesbar? Sein Inhalt klarer verständlich? Mitnichten. Ein Text lässt sich auf vielerlei Art und Weise kürzen, der größte Unterschied besteht hier in der Person: Kürzt der Autor oder wird er gekürzt? Auch der Zweck macht den Unterschied: Ohne zu tief in die Kürzungskunde einzutauchen, um nicht bei Kürzeln und Kleinen Formen anzukommen, lassen sich Kürzungen literarischer Werke in drei Klassen gliedern: Zur einen Klasse gehören Kürzungen, um Längen zu vermeiden, Aufführungs- oder Lesedauer zu verringern. Hier können wir auch von Streichungen schreiben. Was dabei herauskommt und wieviel dabei verlorengeht, mag man an Einspielungen klassischer Werke erkennen, die gerne als Großer Querschnitt vermarktet werden. Da ist bei Haydns Schöpfung natürlich der Firmamentchor zu hören, während kein einziges Mal das Kontrafagott ertönt. Eine andere Klasse binden Zusammenfassungen, die den Inhalt wiedergeben, also Beschreibungen, wie sie oft an Kapitelanfängen stehen, nach dem Motto Sechstes Kapitel, in welchem … . Die literarische Kürzungsform, eine rhetorisch-poetische, um die es den Autoren des Bandes geht, ist keine Kürzung, um Zeit zu sparen. Wer hier kürzt, verdichtet. Das wiederum fordert von den Lesenden womöglich zusätzliche Zeit. Es ist an ihm zu kombinieren, was hier, was dort weggelassen wurde, welche Verbindungslinie man ziehen muss, um den Gesamtzusammenhang, den ganzen Text zu verstehen. Der so gekürzte Text gilt dabei meist als eigenes Kunstwerk.
Was für viele von uns neu ist, was übertrieben genau definiert, wenn es gar als „Prinzip“ funktioniert, war schon vor Jahrtausenden gewohnte Vorgehensweise. Überlegungen, dass er die Zeit der Lektüre verlängere, wenn er den Text mit Bedacht gekürzt hatte, stammen von Horaz. Wie reich und vielschichtig die Welt des Abbreviatio ist, offenbart der neue Sammelband von Julia Frick und Oliver Grütter. Grundlage der versammelten Beiträge ist eine Tagung aus dem Jahr 2019. Die wissenschaftlichen Aufsätze machen uns vor allem klar, mit welchem Dünkel die Menschen auf die Gesellschaften vergangener Jahrhunderte geschaut haben. Denn lange Zeit ging man davon aus, dass Kürzungen vor allem der schwindenden Aufnahmebereitschaft der Zuhörerschaft geschuldet waren. Das Gegenteil war der Fall, stellt die Forschung heute fest. Dünkel verweist bis heute ohnehin meist auf die Begrenztheit der eigenen Vorstellungskraft. Und die mag sich des Kalauers erinnern, der aus den 425 Zeilen von Schillers Lied von der Glocke ganze vier macht (wenn wir die zwei Zeilen großzügig teilen wollen: „Loch in Erde, / Bronze rin. / Glocke fertig: / bim bim bim.“
Nachdem wir eingesehen haben, dass nicht kürzer automatisch immer besser ist, sollten wir uns überhaupt Gedanken darüber machen, wie lang lang und wie kurz kurz eigentlich ist. Wir hatten Grobi aus der Sesamstraße, der uns „lang“ und „kurz“ voneinander unterscheiden half. Die Menschen des Mittelalters waren da weiter; In ihrem Beitrag „Immer schneller kürzer“ verweist Susanne Köbele auf Johann von Konstanz und – programmatisch – auf Ulrich von Liechtenstein, die sich mit dem „rhetorischen Zeitdilemma“ befassten „“Redselige Breite ist ebenso verpönt wie allzu zielstrebige Kürze“): „Sag schnell, was du willst, aber nicht zu schnell, denn übereiltes Abkürzen kann den Liebes- und Dichtererfolg ebenso ruinieren wie Trödeln. Tu ihr deine Beständigkeit beständig kund, aber langweile nicht durch Länge und Dauernd-Reden.“ Vieles lässt sich auch in den übrigen Beiträgen entdecken. Wer aber bei Lang Lang und Kurz gleich bei klassischer Musik und neoklassischer Politik ist, dem sei eine auf die Antonyme „kurz“ und „lang“ besser passende Episode aus meiner Kindheit erzählt. Auf dem Berliner Canisius-Kolleg unterrichtete der Jesuitenpater Karl Länger SJ Physik. Es bedurfte keiner großen Fantasie für den allerorts niedergeschriebenen Spruch „Macht den Länger kürzer!“ Einziger Witz Problem beim ansonsten nicht sehr originellen Namenswitz: P. Länger SJ maß ohnehin nur bescheidene 1,52 Meter. Was ist lang? Was ist kurz? Das neue Buch über Abbreviationes hat zumindest die rhetorisch-poetische Antwort.