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Rezension Chavaroche|Billioud: Atlas der utopischen Welten

von broemmling am 19. September 2021

Ophélie Chavaroche | Jean-Michel Billioud: Atlas der utopischen Welten. 82 Visionoen der Menschheit in Bildern. KOSMOS, Stuttgart 2021. 256 Seiten, 38 EUR.

Helmut Schmidt hat sich später sehr geärgert. Sein flapsiger Spruch Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen hatte sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verselbstständigt. Fortan durfte sich jedes tumbe Haupt, das weder Mut noch Phantasie für Veränderungen zum Guten der Gesellschaft hatte, lustig machen – ausgerechnet über jene, die unsere Gesellschaft schon immer dringend brauchte. Menschen mit einem Traum von Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, mit einer Vision vom friedlichen Zusammenleben, mit einer Idee von einem naturgerechten Leben. Nun ist eine Vision nicht dasselbe wie eine Utopie. Als „Nicht-Ort“ lässt sich Utopie aus dem Griechischen übersetzen, übrigens auch als „guter Ort“, denn der griechische Diphthong  ευ  wird genauso zum U aus „Utopia“ wie das  ου  von „nicht“. Der Hinweis fehlt, und es bleibt ein üppiger, zuweilen verwirrender Band. In einem Atlas der utopischen Welten haben die Literaturwissenschaftlerin Ophélie Chavaroche und der Historiker Jean-Michel Billioud nun zusammengestellt. Landkarten von entdeckten wie erfundenen Gegenden sind genauso versammelt wie Menschen und Ereignisse, deren Kern, deren Vision sich nicht als Landkarte mit Bergen und Flüssen abbilden lassen. Es ist der erste Atlas, der eine Geschichte erzählt.

Das Autorenduo hat Utopien und Visionen sechs Hauptteilen zugeordnet. Ergebnis der Suche nach dem idealen Ort ist unter anderem Thomas Moores Utopia, Atlantis gehört in diese Kategorie ebenso wie Eldorado. Die Schnapsidee vom ewigen Reichtum hat nicht nur Konquistadoren den Kopf verdreht, wie Autor und Autorin schreiben. Die Eroberer zerstörten gewachsene Kulturen und mordeten alle, die sich ihnen in den Weg stellten. Schon im ersten Teil merken wir also, dass Utopien oft genug von sehr persönlichen Träumen, Werten und Vorstellungen erdacht sind. Stadtutopien widmet sich der zweite Teil, manche schrieben Erfolgsgeschichte (Brasília), manchen war nur eine kurze Lebensdauer beschieden (Busludscha). Nicht ganz überzeugend widmet sich ein dritter Teil der Neuerschaffung der Welt. Alles in diesem Teil ist plötzlich Revolution, das Wagnis des Magellan ist die Revolution des Magellan, in den Bauernaufständen hat schon Friedrich Engels die Vorläufer der Revolution gesehen. Die Studentenrevolution, der arabische Frühling, die Abschaffung des Krieges, zwei Stunden Arbeit täglich, sexuelle Freiheit für die ganze Welt, Glück für alle wie in Bhutan, geschlechtergleiche Löhne für gleiche Arbeit: Hier arbeiten wir an unseren eigenen Utopien, die aber eben doch keine Utopien sein sollen. Autor und Autorin gehen offenbar davon aus, eine weit verbreitete Meinung, dass wahre Entwicklungen nur durch Revolution zu erreichen sind. Im vierten Atlasteil geht es um die Forschung und Entwicklung in Laboratorien der Utopien. Experimente in Bolivien, Wichtelhäuser im Boden, eine Einkaufs-App, Abfallvermeidung und eine Reform der Sozialversicherung – bis dahin mochte man die Laboratorien noch zuordnen. Beim Lob für Wikipedia und bei einer kleinen Geschichte aus den Jahren der brasilianischen Militärdiktatur werden die Zweifel schon stärker, ob sich die Autoren hier nicht etwas übernommen haben. Die zerstreut auch der fünfte Teil, Wissenschaft und Fiktion, nicht. Hier geht es um neue Wohnformen – im Meer, im Baum, im Himmel, um fliegende Autos und um nichts weniger als die Unsterblichkeit. Das hatten wohl die wenigsten im Atlas der Utopien erwartet. Aber es hat schon seinen Sinn: Hier geht es nicht um Phantasiewelten, um Lummerland oder Mittelerde. Hier geht es um diese Welt. So sind denn die Botschafter der Utopien, mit denen sich der sechste Teil befasst, alles Menschen aus Fleisch und Blut. Simón Bolívar, ist dabei, Ernesto Che Guevara, Rosa Parks und viele andere mehr.

Dass die Verteilung der utopischen Aspekte in Europa, folgt man dem Buch, recht ungleich erscheint, stößt zunächst ein bisschen bitter auf, dann beruhigt man sich: Ein Dutzend Kapitel aus Frankreich und nur eines aus Deutschland: Das Autorenduo kann seine Herkunft nicht verbergen. Und sollen in Deutschland wirklich die Bauernkriege jene Utopie sein, die uns als erstes einfällt, wenn wir an Utopien aus Deutschland denken (in der Nacht oder am Tage anheim- oder dahingestellt)? Das macht überhaupt nichts: Dinge, die wir schon kennen, können unsere Erkenntnis kaum bereichern. Und so lernen wir eben mehr über die fixen Ideen der Franzosen als über die Visionen der Deutschen. Dass hier Germania (ehemals Berlin) nicht auftaucht, erleichtert eher als dass es stört. Es ist eine lange Reise, auf die Autor und Autorin die Leserschaft mitnehmen. Man mag die Zusammenhänge vermissen zwischen den Orten des ersten Teils, Abraxas nahe Paris, dem brutalistischen Petrova Gora in Titos Jugoslawien und New Harmony im US-amerikanischen Indiana einerseits und den Botschaftern der Utopien im letzten Teil. Überall sind Visionen mit Utopien, Entdeckungen mit Revolutionen vermengt. Aber hält man die Reise, die an keiner Stelle langweilt, bis zum Ende durch, versteht man auch, was mit dem Text auf dem Einband gemeint war, der anfangs einn bisschen großspurig klang: Dieses mit Fotoss, Plänen und alten Karten iollustrierte Werk sprengt jegliche Grenzen der Vorstellungskraft, verwandelt die Utopie in eine Quelle der Inspiration … das tut es wirklich, das hätte vielleicht sogar Helmut Schmidt gefallen. Respekt!

Von → Allgemein, Rezension