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Betroffene als Expert:innen – Kurzkritiken in der DHIVA

von broemmling am 30. August 2020

Das Wort Diversität hat eine beeindruckende Karriere hinter sich – und das, obwohl die eigentliche Karriere erst in unseren Tagen beginnt. Bis 2010 war Diversität als Symbol für Vielfalt vor allem in den Naturwissenschaften verbreitet. Dass sich in den jüngsten Jahren Diversity Studies mit Mensch und Gesellschaft befassen, nahm seinen Anfang im Black Feminism der 1980er. Die Vertreter:innen des europäischen Feminismus hatten stets darauf gepocht, dass die wichtigste Unterscheidungslinie zwischen weiblich und männlich verliefe. Nun spielten plötzlich auch Rasse und soziale Herkunft eine Rolle. Aber Diversität mit ihren Chancen und Risiken für die Gesellschaft schien ein neues Phänomen der modernen Welt zu sein. Eine Aufsatzsammlung des Interdisziplinären Zentrums Gender-Differenz-Diversität der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert nun Diversität in historischer Dimension. Ob französische Autobiographien des 18. Jahrhunderts, preußische Gerichtsverhandlungen zu Sodomie, Zirkusunternehmen in den USA, Europa und Russland vor 1914, Berufs- und Ständebücher um 1700: Überall entdecken die Autor:innen Diversität. Nie war die Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Fremden, dem Neuen ohne Konflikte. Der historische Blick gibt Denkanstöße für einen Umgang mit Diversität ohne Diskriminierung oder gar Ausgrenzung.
Diversität ohne Diskriminierung gelingt am besten, wo nicht bestimmte Eigenschaften als normal gelten. Wo jeder anders sein kann als der andere, ohne unnormal zu wirken oder gar zu sein. Als Nichthetero erfährt man selbst in Deutschland täglich Diskriminierung, wenn die Lesbe nach ihrem Freund, der Schwule nach seiner Freundin gefragt wird. Damit nicht auch die nächste Generation in heteronormativen Stereotypen verharrt, sind besondere Ideen bei der Kinder- und Jugendbildung gefragt. Das Jugend Museum Berlin Schöneberg kann als Vorbild dienen. Der Bericht über ein Forschungsprojekt am Museum bietet neben einer kurzen theoretischen Einführung Orientierungslinien für die Praxis.
Auch positive Diskriminierung tritt in der heteronormativen Gesellschaft auf. Dass der Ressortleiter bei der Verteilung der Themen ohne langes Überlegen die Berichterstattung über den CSD an den schwulen Redakteur gibt und dass Anne Holts Bücher manchmal in der Queer-Ecke der Buchhandlung stehen statt bei den Krimis, sind solche Fälle. Schwieriger wird es beim Einsatz als betroffene Expert:innen. Kim Scheunemann hat qualitativ erforscht, ob eine Person Inter* oder Trans* sein muss, um als Expert:in für solche Themen anerkannt zu werden. Die verneinende Antwort sei verraten. Im Verlauf einer schlüssigen Argumentation bezweifelt die Autorin sogar, dass es so etwas wie objektive Expert:innen des Geschlechts überhaupt geben kann.
Johann Jakob Bachofen wäre ein zweifelhafter Experte gewesen, hätte man auf Betroffenheit oder Geschlecht geschaut. Er hat, lange Zeit vergessen, 1859 mit dem Versuch über die Gräbersymbolik der Alten eine Geschichte der Sexualität und Institutionalisierungsformen geschrieben. Mit diesem Buch hat er der Menschheit übrigens ähnliche Irritation bereitet wie Darwin mit der Entstehung der Arten im gleichen Jahr. In seinem zwei Jahre später erschienenen Hauptwerk Das Mutterrecht sieht er die Menschheit in der dritten Phase der Entwicklung. In der zweiten Phase sei die Frau zentrales Geschlecht gewesen. Wer in den 100 Jahren, die folgten, über das Matriarchat schrieb, wissenschaftlich oder literarisch, hatte Bachofen gelesen. Ein neues, lesenswertes Buch zeigt den Einfluss der Matriarchatsidee auf große Geister: Hofmannsthal, Kafka, Hauptmann, Schnitzler, Canetti, Broch und Thomas Mann – alles keine wirklichen Expertinnen des Geschlechts, wenn es ums Matriarchat geht.

Moritz Florin | Victoria Gutsche | Natalie Krentz (Hg.): Diversität historisch. Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel (= transcript Histoire). Gefördert durch Dr. German Schweiger-Stiftung. Transcript Verlag, Bielefeld 2018. 234 Seiten, 39,99 Euro. 978-3-8376-4401-2.
Mart Busche |Jutta Hartmann | Tobias Nettke | Uli Streib-Brzič (Hg.): Heteronormativitätskritische Jugendbildung. Reflexionen am Beispiel eines museumspädaghogischen Modellprojektes (= transcript Pädagogik). Transcript Verlag, Bielefeld 2018. 217 Seiten, 29,99 Euro. 978-3-8376-4241-4.
Kim Scheunemann: Expert_innen ders Geschlechts? Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen. (= transcript QueerStudies). Gedruckt mit Unterstützung der Max-Träger-Stiftung. Transcript Verlag, Bielefeld 2018. 203 Seiten, 32,99 Euro. 978-3-8376-4149-3.
Ulrich Boss | Yahya Elsaghe | Florian Heiniger (Hg.): Matriarchatsfiktionen. Johann Jakob Bachofen und die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Schwabe Verlag, Basel 2018. 294 Seiten, 48 Euro. 978-3-7965-3507-9.

Von → Allgemein, Rezension