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Thema des Monats: Die Reihe Staatsverständnisse im Nomos-Verlag. Kurzkritiken

von broemmling am 27. März 2018

Ausgelesen! Die Reihe Staatsverständnisse ist eine der schönsten und aufschlussreichsten Reihen des Nomos-Verlages (natürlich nach der Schriftenreihe zum Stiftungswesen, muss ich, aus meiner Rezensentenrolle heraustretend, hinzufügen, schließlich ist dort als Band 44 meine Dissertation Zwischen Wohlfahrtsstaat und Zivilgesellschaft. Stiftungen in Norwegen erschienen). Viele Buchreihen erleben bei Verlagen, sei es mangels Interesse, Themenvielfalt oder Finanzierung, kaum den dritten Band. Das ist bei den Staatsverständnissen anders, was nicht nur am Preis liegt, der sich zwischen 29 und 49 Euro pro Band bewegt: Das Nachdenken über die Verfassung der Welt gehört seit Menschengedenken zu den Grundfragen der Philosophie. Wer Platons Höhlengleichnis nicht verinnerlicht hat, sollte in unserer Welt kein Amt bekleiden dürfen. Unsere Erkenntnis ist begrenzt, unser Erfahrungshorizont von den Koordinaten der Welt eingeschränkt. Es ist unmöglich, die Wahrheit zu kennen. Dass man sich gleichwohl über das Zusammenleben der Menschen in welcher Form auch immer (es muss nicht immer Staat sein, wie die Anarchisten zeigen) Gedanken machen muss, steht außer Frage.

Die Reihe Staatsverständnisse versammelt Monographien und Sammelbände zum Denken einzelner Philosophien wie ganzer philosophischer Schulen. Inzwischen hat der Nomos-Verlag den 100. Band seiner Staatsverständnisse herausgebracht. Ein schøner Anlass, auf einige der jüngsten Bände zu verweisen, die ich mir in der Fastenzeit zu Gemüt geführt habe. Mein Politologie-Studium am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin liegt ein Vierteljahrhundert zurück, aber immer noch präsent in mir der Kurs über Platons Staat mit meinem Referat übers Höhlengleichnis, das ich schon aus meinem Griechisch-Unterricht kannte.

Irgendwann in den achtziger Nummern der Reihe hat der Verlag übrigens angefangen zu sparen. Die Druckqualität der Einzelbände ist merklich schlechter geworden. Das merkt, wer die ersten 80 Bände kennt; der Qualität des Inhalts tut die neue Gestaltung keinen Abbruch. Einer der letzten Bände in besserer Ausstattung befasst sich mit Staatsverständnissen im Existenzialismus – zu Recht ist auch hier der Plural von Verständnis gewählt, denn keine philosophische Denkrichtung lässt sich zu einem Staatsverständnis eindampfen. Wer hätte gedacht, dass der individualistische Ansatz der Existenzialisten – der von einem Primat des Individuums vor dem Staat ausgeht – in unserer Zeit wieder Gültigkeit erlangt? Die Nachwirkungen des verfemten Existenzialismus sind jedenfalls politischer und aktueller, als es die magere Rezeption bisher behauptet.

Ernst Bloch ist uns durch seine Werke Geist der Utopie und Das Prinzip Hoffnung bekannt. Aber was dachte Bloch vom Staat? Ein Sammelband befasst sich mit Blochs Staatsverständnis. Kaum ein marxistischer Philosoph hat den Staat so klar als Hindernis gesehen auf dem Weg zu einer besseren Welt. Bloch untersucht im Prinzip Hoffnung die unterschiedlichen Utopien, deren Erscheinen bzw. Behandlung in der Geschichte er als logische Abfolge betrachtet. Die Beiträge des Bandes 91 der Staatsverständnisse wagen zuweilen nicht nur mutige, sondern übermütige Thesen: Da ist Bloch letztlich Vordenker oder Mitdenker einer neoliberalen Gesellschaft, und Christoph Türcke entkräftet Blochs Festlegung auf Bestimmung mit Foucault und Derrida.

Wie übermütig das Zusammenbringen der Philosophie Ernst Blochs mit dem Neoliberalismus auch sein mag; der nächste Band der Reihe befasst sich mit dem Staat des Neoliberalismus. Während die aktuellen Debatten in wirtschaftlichem wie politischen Umfeld eher nahelegen, Staat und Neoliberalismus seien ziemlich beste Feinde, belegen die Beiträge des Sammelbandes, dass es durchaus modifizierte und differenzierte Vorstellungen unter den Neoliberalisten gibt, was Staat leisten soll und leisten kann. Welche Bedeutung dem Staat in der neoliberalen Praxis zukommt, zeigt der Beitrag von Mark Bevir und Kim McKee über die Rolle des Staates ein Großbritannien. Der Staat mag Hürde sein, bleibt aber doch notwendiges Korrektiv.

Nicht in jeder Denkschule, in jeder Philosophie steht die Haltung zum Staat zentral. In Walter Benjamins Werk etwa stoßen wir eher mittelbar auf den Staat als politische Kategorie, etwa über Begriffe wie Souveränität und Gewalt, Produktionsverhältnisse und Warenform. Der Sammelband 93 aus der Reihe Staatsverständnisse arbeitet diese Bezüge heraus. Eine so direkte Forderung wie Benjamins „Der Staat soll verschwinden“ ist eher selten.

Ein anderer Sammelband nimmt sich der Rolle der Öffentlichkeit in der Demokratie an. Was ist überhaupt Öffentlichkeit? Und wie funktioniert politische Willensbildung? Lässt sich die Schwächung der Öffentlichkeit durch die Macht der Medien noch aufhalten? Dass der Band die Untersuchung der Rolle der Öffentlichkeit auf eine Staatsform beschränkt, zeigt die Vielseitigkeit der Reihe, die in weiteren Bänden die Staatstheorien von Eric Voegelin und Karl Jaspers untersucht.

Platon ist für Politologen, für alle Lehren vom Staat und vom Verhältnis von Staat und Gesellschaft oder Staat und Bürger, Maßstab geblieben. Es dürfte daher kein Zufall sein, dass sich der 100. Band der interessanten Reihe ausgerechnet mit Platon befasst. Zwar ist nicht Platons Staat Gegenstand der Untersuchung, sondern sein Werk Die Gesetze. Und auch wenn der Klappentext es anders vermitteln möchte: Platons Nomoi reichen nicht an die Politeia heran. Und doch gibt der Band ungewohnt leichten Zugang zu dem über weite Teile schwer zu interpretierenden Text. Ein politisches System, gebaut auf der Herrschaft von Vernunft und Gesetz, mit Leben gefüllt von freien, mündigen Bürgern und verantwortungsbewussten Regierenden – vielleicht kann ja doch Platon unsere nächste Bundeskanzlerin sein.

Reihe Staatsverständnisse des Nomos-Verlages:

77: Hans-Martin Schönherr-Mann: Gewalt, Macht, individueller Widerstand. Staatsverständnisse im Existentialismus. Nomos Verlag, Baden-Baden 2015. 300 Seiten, 39 Euro. 978-3-8487-1900-6.

91: Hans-Ernst Schiller (Hg.): Staat und Politik bei Ernst Bloch. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016. 214 Seiten,  39 Euro. 978-3-8487-3365-1.

92: Thomas Biebricher (Hg.): Der Staat des Neoliberalismus. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016. 285 Seiten, 49 Euro. 978-3-8487-3256-2.

93: Christine Blättler | Christian Voller (Hg.): Walter Benjamin. Politisches Denken. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016. 307 Seiten, 49 Euro. 978-3-8487-3425-2.

94: Henning Ottmann | Pavo Barišić (Hg.): Demokratie und Öffentlichkeit. Geschichte. Wandel. Bedeutung. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016. 156 Seiten, 29 Euro. 978-3-8487-3303-3.

95: Hans-Jörg Sigwart (Hg.): Staaten und Ordnungen. Die politische und Staatstheorie von Eric Voegelin. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016. 257 Seiten, 39 Euro. 978-3-8487-3312-3.

99: Karl-Heinz Breier | Alexander Gantschow (Hg.): Vom Ethos der Freiheit zur Ordnung der Freiheit. Staatlichkeit bei Karl Jaspers. Nomos Verlag, Baden-Baden 2017. 205 Seiten, 39,90 Euro. 978-3-8487-0827-7.

100: Manuel Knoll | Francisco L. Lisi (Hg.): Platons Nomoi. Die politische Herrschaft von Vernunft und Gesetz. Nomos Verlag, Baden-Baden 2017. 290 Seiten, 29 Euro. 978-3-8487-1899-3.

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