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Elf neue Kurzbesprechungen in der Doppel-DHIVA Sommer/Herbst 2017

von broemmling am 10. Oktober 2017

Gerade erschienen ist die Doppelnummer der DHIVA – Zeitschrift für Frauen, Sexualität und Gesundheit mit einer Doppelseite meiner Kurzbesprechungen. Es geht um Hexen, Huren und Diseusen einerseits und – weiter unten im Blog – um den Umgang mit Sexualitäten andererseits.

DHIVA 2017 2-3

Den ganzen Text gibt es auch hier:

Anderssein verunsichert

Von Hexen, Huren und Diseusen

Anderssein verunsichert. Vor allem jene, die sich dem Normalen zugehörig fühlen. Alle, die anders sind, bedeuten Machtverlust für die Mächtigen: Wer nicht so tickt wie sie, lässt sich schwerer lenken und berechnen. Anderssein macht neidisch. Warum dürfen andere aus einem gesellschaftlichen Wertekanon ausbrechen? Aber bei aller Verunsicherung und allem Neid geht vom Anderssein eine große Faszination aus, die bis heute anhält. Geister, Hexen, Huren und Diseusen – was nicht in die bürgerliche Welt passt, steht schnell am Rande der Gesellschaft. Aber es gibt eine hoffnungsvolle Entwicklung.

Der Verlag für Regionalgeschichte gibt eine feine Reihe zur Hexenforschung heraus, und ein Band macht sprachloser als der andere, wenn er aus immer neuer Perspektive die Mechanismen der Ausgrenzung aufzeigt, die nicht nur im Mittelalter funktionierten. Auch große Geister von der Aufklärung bis zur Weimarer Klassik haben zu solchen irrationalen Prozessen geschwiegen, legt Wolfgang Behringer in einem aufschlussreichen Aufsatz nahe. Goethe fand das Hexenthema für seinen Faust brauchbar. Stellung bezogen gegen Hexenhinrichtungen, die es selbst zu seiner Zeit noch gab, hat er nicht.

Als man unerklärliche Ereignisse nicht mehr auf den Teufel schieben wollte, entstand in Deutschland im 19. Jahrhundert ein absurder Glaube an Tote oder besser Untote, die selbst ins Schicksal eingriffen oder sich anderer dafür bedienten. Auch schlaue Köpfe verfielen diesem Geisterglauben. Wie die tote Mutter des Darmstädter Landgrafen Ludwig IX. einen armen Mann zum Leibarzt ihres Sohnes macht (der Landgraf glaubt das Märchen, sie sei dem Mann erschienen mit den Worten, er sei zu des Landgrafen Leibarzt bestimmt), ist nur eine von vielen phantastischen Geschichten, die Diethard Sawicki erzählt.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren Hexen wie Geister aus der Mode gekommen; man wollte sich amüsieren, und schillernde Gestalten schienen der Freude durchaus zuträglich zu sein. Sandra Danielczyk zeigt uns, wie Diseusen in der Weimarer Republik das Anderssein als Image pflegten, wie sie konsequent an ihrer Rolle arbeiteten und – sei es als mondäne Lebedame, sei es als armes Mädchen aus der Vorstadt – die besondere Position in der Gesellschaft als Vorteil vermittelten.

Auch die Hurenbewegung, die Almuth Waldenberger in ihrer Untersuchung ebenfalls nach dem Ersten Weltkrieg beginnen lässt, hat mit ihrem selbstbewussten Auftreten gezeigt, dass man als handelndes Subjekt stärker ist als ein Objekt, das sich von der Allgemeinheit an den Rand drängen lässt. Dass Sexarbeiter heute nicht mehr per se als Outlaw der Gesellschaft betrachtet werden, sondern eigene Rechte einfordern, hat auch Alice Schwarzer mit ihrem Kampf gegen die Prostitution nicht verhindern können. Die Hurenbewegung macht Hoffnung, dass sich unsere Gesellschaft durchaus nach vorne bewegt.

Das ändert nichts daran, dass es himmelschreiendes Unrecht bis heute gibt, etwa gegen so genannte Kinderhexen in Afrika und Asien, ein unbekanntes Aktionsfeld der UNO, von dem wir im jüngsten Band  der schon erwähnten Hexenreihe lesen.

Wolfgang Behringer | Sönke Lorenz | Dieter R. Bauer (Hg.): Späte Hexenprozesse. Der Umgang der Aufklärung mit dem Irrationalen (= Hexenforschung Band 14). Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2016. 978-3-89534-904-1. 429 Seiten, 29 Euro.

Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900. Ferdinand Schöningh Verlag, 2., durchgesehene und um ein Nachwort ergänzte Auflage Paderborn 2016. 978-3-506-78279-3. 427 Seiten, 39,90 Euro.

Sandra Danielczyk: Diseusen in der Weimarer Republik. Imagekonstruktionen im Kabarett am Beispiel von Margo Lion und Blandine Ebinger (= transcript GfPM texte zur populären musik 9). Transcript Verlag, Bielefeld 2017. 978-3-8376-3835-6. 434 Seiten, 44,99 Euro.

Almuth Waldenberger: Die Hurenbewegung. Geschichte und Debatten in Deutschland und Österreich (= Kulturwissenschaft Band 47). LIT-Verlag, Wien 2016. 978-3-643-50597-2. 337 Seiten, 29,90 Euro.

Wolfgang Behringer | Claudia Opitz-Belakhal (Hg.): Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder (= Hexenforschung Band 15). Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2016. 978-3-89534-975-1. 468 Seiten, 29 Euro.

Sexualität(en): skandalumwittert oder ganz normal

Und ewig lockt – was auch immer

Geschichte hat, wo sie gut verläuft, eine Richtung: nach vorn, nach oben. Zur Sonne, zur Freiheit, wie Sozialdemokraten sagen. Manchem Phänomen indes haftet über alle Epochen hinweg etwas Anrüchiges, mindestens Geheimnisvolles an. Sexualität gehört dazu. Normal ist anders. Wobei unnormal nicht die Sexualität in allen ihren Formen ist, sondern der Umgang damit. Immer wieder berichten Neuerscheinungen über Sexskandale und über Sexualität, die mit Unmoral, Doppelmoral oder gar mit dem Tod eine Verbindung eingeht. Die Zeiten wechseln, die Aufregung bleibt die gleiche; im Mittelalter, in der Weimarer Republik, bei den 68ern.

Mit Hexenlust und Sündenfall und anderen Holzschnitten und Gemälden zum Themenfeld Der Tod und das Mädchen fängt im Mittelalter alles an. Die Frau kann Bild der Tugend sein, zu zwei Dritteln ist sie aber eine allen sieben Hauptlastern ergebene Teufelin. Geht es um die Darstellung von Sexualität und Verführung, treffen wir fast immer auf weibliche Gestalten. Das zeigt Kathrin Baumstark fürs Spätmittelalter, das ist kaum anderer Tenor in Barbara Martins Darstellung der Frau in der französischen Plakatkunst des 19. Jahrhunderts zwischen Verklärung und Verführung. Und ewig lockt das Weib erfährt im Kopf doch in jeder Epoche den Zusatz: ins Verderben.

Das ist auch im Umgang der Medien im Deutschen Kaiserreich mit allem Nackten und Sexuellen der Fall. Fürs schmutzige Sexuelle, zeigt Christina Templin, machte man Frauen verantwortlich; exemplarisch sei der Journalist Armin Kausen genannt, der 1906 den Münchener Männerverein zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit gründete. Heidi Sack belegt die gleichen Denkmuster für die Weimarer Republik. Als im Juni 1927 die „Steglitzer Schülertragödie“ mit dem Selbstmord eines Schülers endet, sieht die öffentliche Meinung die Schuld bei einer Frau – und schon die unter Pseudonym schreibende Helene Keßler nahm in ihrem Roman Nixchen 1899 diese Denkschablone einer sexhungrigen Frau, die Männer skrupellos missbraucht, zur Vorlage.

Sogar auf die 68er wendet man diesen Blickwinkel an; zumindest waren es hier nach Karla Verlindens Untersuchung nicht mehr nur die Männer, die die Frauen zum Sex zwangen; sie findet auch umgekehrte Fälle. Frei vom Mythos als Machtinstrument war Sexualität also auch vor 50 Jahren noch nicht.

Dass wir vielleicht irgendwann einen Schritt weiter sein werden auf dem Weg nach vorne, nach oben, dazu gibt das Jahrbuch Sexualitäten Hoffnung. Der zweite Band der Initiative Queer Nations (IQN) wirft einen erfreulich unbefangenen Blick auf Sexualitäten. Nicht alles wird jeder Leserin gefallen, etwa wenn Patsy l’Amour LaLove den queeren Politikformen eine Mischung aus Stalinismus und überformter Religiosität attestiert. Spannend und klug sind die Beiträge allemal, ob zu queeren Fluchten, zu Gewalt, Weiblichkeit und Sexualität oder zu schwulen Lehrern. Ob es dann „cool“ sein muss, wenn der Lehrer schwul ist, sei dahingestellt: Da wären wir wieder beim Aufreger jenseits des Normalen, über den wir doch schon lange den Kopf schütteln.

Kathrin Baumstark: „Der Tod und das Mädchen“. Erotik, Sexualität und Sterben im deutschsprachigen Raum zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. LIT-Verlag, Berlin 2015. 204 Seiten, 29,90 Euro. 978-3-643-13182-9.

Barbara Martin: Zwischen Verklärung und Verführung. Die Frau in der französischen Plakatkunst des späten 19. Jahrhunderts. Transcript Verlag, Bielefeld 2016. 446 Seiten, 39,99 Euro. 978-3-8376-3077-0.

Christina Templin: Medialer Schmutz. Eine Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890-1914. Transcript Verlag, Bielefeld 2016. 376 Seiten, 39,99 Euro. 978-3-8376-3543-0.

Heidi Sack: Moderne Jugend vor Gericht. Sensationsprozesse, „Sexualtragödien“ und die Krise der Jugend in der Weimarer Republik. Transcript Verlag, Bielefeld 2016. 486 Seiten, 39,99 Euro. 978-3-8376-3690-1.

Karla Verlinden: Sexualität und Beziehungen bei den „68ern“. Erinnerungen ehemaliger Protagonisten und Protagonistinnen. Transcript Verlag, Bielefeld 2015. 465 Seiten, 39,99 Euro. 978-3-8376-2974-3.

Maria Borowski | Jan Feddersen | Benno Gammel | Rainer Nicolaysen | Christian Schmelzer (Hg.): Jahrbuch Sexualitäten 2017. Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 247 Seiten, 34,90 Euro. 978-3-8353-3093-1.

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