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Kurzkritik Nichts wie weg! Sechs Bücher vom oder übers Reisen

von broemmling am 24. September 2017

Ausgelesen! Wenn nun die Rechten in den Deutschen Bundestag einziehen, mag mancher angewidert das Weite suchen. Reiseliteratur gehört zu den schönsten Medikamenten, um die Sehnsucht nach der Ferne schon vorab zu stillen und um auf andere Gedanken zu kommen. Sechs teils ganz frisch erschienene Titel habe ich in den letzten Tagen gelesen, um meine persönliche Sehnsucht zu stillen. Eine Aufsatzsammlung ist dabei, ein theoretisches Metabuch quasi, und fünf Titel, die in ganz unterschiedliche Richtungen führen: die Donau hinunter, von Aleppo nach Paris, nach Brasilien, ins alte Rom und in die Utopie.

Um Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne geht es in einem Sammelband, den die Literaturwissenschaftler Michaela Holdenried, Alexander Honold und Stefan Hermes im Erich Schmidt Verlag herausgegeben haben. Geordnet nach Beiträgen zu Reiseformen, Textformen und Reisezielen entsteht das ganze Kaleidoskop des Reisens und der Reiseberichte vor dem Auge des Lesers. Auch für Weitgereiste und Vielbelesene hält die Textsammlung neue Erkenntnisse parat. Spannend etwa erklärt die Freiburger Germanistin Weertje Wilms, wie unterschiedlich über das neue Russland, die neue Sowjetunion berichtet wurde und wie sich die Reisetexte darüber recht klar in vier Epochen einteilen lassen. Und auch nahe Ziele erfahren differenzierte Betrachtung: Stefan Hermes zeigt konkurrierende Brandenburg-Bilder und platziert Wolfgang Herrndorfers Tschick zwischen Feridun Zaimoglus German Amok und Jürgen Beckers Geschichte der Trennungen, zwischen Brandenburg-Verachtung und Brandenburg-Verklärung. Brandenburg kann Rückzugsort sein, wenn auch einer mit Schattenseiten.

Der einzige Reisebericht der Postmoderne, der hier als eigener Titel präsentiert wird, ist zugleich der druckfrischste. Im vergangenen Monat erschien Nick Thorpes Die Donau. Angefangen von der Mündung im Schwarzen Meer, schreibt sich der englische Journalist und Filmemacher vor bis an die Mündung im Schwarzwald. Thorpe kennt die Donau gut von seinem heutigen Wohnort: Er lebt in Budapest. Keine Stadt liegt so prächtig an der Donau wie die Doppelstadt Buda und Pest, Bratislava vielleicht, Wien sicher nicht, zu weit ab fließt sie an der Innenstadt vorbei. Thorpes Reise gegen den Strom liest sich so außergewöhnlich, weil die Donau vor allem Wegbereiterin ist, auch wenn sie dem Autor auf seiner Reise ständig entgegenströmt: Sicher bringt sie ihm zu ungezählten Gesprächspartnern, die mit ihren kleinen und großen Geschichten Aufschluss geben über Gesellschaften im Umbruch, über Schicksale quer durch Europa, gleich, ob wir sie auf einer Polizeiwache in Österreich treffen oder bei Protesten gegen ein Staudammprojekt in Ungarn.

Weiter führt uns der Weg, weg aus Europa. Auch zu Reiseberichten aus Brasilien findet sich im Sammelband über Reiseliteratur ein Beitrag. Jobst Welge, Romanist an der Uni Eichstätt-Ingolstadt, beschreibt dort, wie sich die landesinterne Heterogenität in einem Pluralismus des Kulturbegriffs Bahn bricht, und zeigt dies an Texten über Reisen nach, in und aus Brasilien. Aber eine wunderbare Reise ist nicht unter den beschriebenen, weil sie zu früh, eben noch vor der Moderne stattfand: Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied reiste in den Jahren 1815 bis 1817 nach Brasilien. Sein Bericht ist bei der Anderen Bibliothek 200 Jahre später wieder erschienen, prachtvoll aufbereitet, wie man es auch von den großen Foliobänden der Anderen Bibliothek gewohnt ist. Wenn wir an frühe große Wissenschaftsexkursionen nach Lateinamerika denken, fällt uns zuerst und vor allem Alexander von Humboldt ein. Das größte Land Südamerikas aber hat er nicht bereist, das holte Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied dann kurze Zeit später nach, angeregt durch die humboldtschen Reiseberichte. In der wunderbaren neuen Ausgabe finden wir neben dem Originaltext der Reise von Rio de Janeiro die Küste nordwärts bis nach Salvador de Bahia nebst der Erkundung des Landesinneren alle Grafiken des Prinzen. Der Autor schreibt über Fauna und Flora, aber auch über die Lebensweise der von der Zivilisation bis dahin oft unberührten Urwaldbewohner des Amazonas. An vielen Stellen aber waren die Europäer zuvor schon gewesen; der Prinz schreibt über Villen, die von Jesuiten hundert Jahre zuvor verlassen wurden, und seine Hinweise auf Exponate in europäischen Museen lesen sich fast wie eine Beuteliste ethnologischer Museen; bei der Eröffnung des Humboldt-Forums in der Mitte Berlins wird man sich auch an Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied und seinen aufschlussreichen Bericht aus Brasilien erinnern.

Immerhin gibt es viele Exponate noch, immerhin ist hier dem kulturellen Gedächtnis eine dauernde Gedächtnisstütze gesichert. An manche Orte der Welt erinnert bald nur noch die Literatur. Palmyra ist zerstört, und auch Aleppo werden wir nie wieder so erleben, wie wir es aus einem Reisebericht des zwanzigjährigen Hanna Diyāb kennenlernen, der 1707 in Aleppo den Franzosen Paul Lucas trifft und mit ihm über Zypern, Ägypten, libyen und Tunesien nach Paris reist. Es ist übrigens derselbe Hanna Diyāb, dem wir die Märchen Ali Baba und die 40 Räuber und Aladdin und die Wunderlampe verdanken. Der kurzweilige Reisebericht, der im vergangenen Jahr in der Anderen Bibliothek erschien, wurde erst 1993 im Vatikan wiederentdeckt.

Wer einmal im wunderbaren Hessischen Landesmuseum Darmstadt war wie ich im Juni 2015, wird eine Besonderheit nicht vergessen: Darmstadt verfügt über die umfassendste Sammlung an Korkmodellen des Phelloplastikers Antonio Chichi (1743-1816), einen annähernd großen Schatz dieser Modelle können nur noch Kassel und Gotha vorweisen. Die Korkmodelle antiker Bauten Roms brachten Italienreisende mit nach Deutschland, zum einen um stolz von den Sehenswürdigkeiten Roms zu künden, zum anderen, um Architekten in der Heimat Anleitung zum Verständnis klassischen Bauens zu geben. Schloss Friedenstein in Gotha hat nun seine Sammlung an Korkmodellen wieder von neuem der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und dafür einen umfangreichen Katalog mit Begleittexten zur Entstehung der Korkmodelle und zu den Motiven ihres Erwerbs vor über 200 Jahren erstellt. So macht der Leser mit dem neuen Buch aus dem Morio Verlag eine doppelte Reise in die Vergangenheit: mit den Modellen ins alte Rom und mit ihrem Schöpfer an die Wende vom 18. Zum 19. Jahrhundert ins kleine Herzogtum von Sachsen-Gotha-Altenburg.

Und die Reise in die Utopie? Es ist die mit Abstand bekannteste Utopie der Kulturgeschichte – wenn wir Atlantis einmal außen vor lassen. Thomas Morus schrieb sein Utopia vor knapp 500 Jahren. Im Georg Olms Verlag ist nun der Nachdruck der Basler Ausgabe von 1518 erschienen. Für alle, die Schwierigkeiten mit dem lateinischen Original haben (das trifft trotz acht Schuljahren Latein auch für mich zu), ist der zweite Band gedacht, der neben einem erläuternden Essay auch eine gute Übersetzung enthält. Und da wird der Sehnsuchtsreisende fündig und kehrt, obwohl er doch ganz weit weg, nach Utopia, wollte, schnell wieder in die Realität zurück: „Wer nämlich der Ansicht ist, die Armut des Volkes gewährleiste Sicherheit, irrt ganz erheblich“, heißt es bei Thomas Morus, und er führt als vorbildlich das Beispiel der Makarenser an, die nahe bei Utopia wohnen und deren König nie mehr besitzen darf als tausend Pfund Gold. Und wer in Utopia von der Arbeit befreit ist, setzt sich freiwillig für die Belange des Gemeinwesens ein. Wer weiß, ob nicht, wenn auch hierzulande Reichtum begrenzt wäre und freiwilliges Engagement als selbstverständlich erachtet würde, weniger Wähler den rechten Rattenfängern auf den Leim gegangen wären.

Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied: Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817. Mit den vollständigen Illustrationen aus den Originalbänden und einem Nachwort von Matthias Glaubrecht. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015. 99 Euro. 978-3-8477-0017-3.

Von Aleppo bis Paris. Die Reise eines jungen Syrers bis an den Hof Ludwigs XIV. Unter Berücksichtigung der arabischen Handschrift aus der französischen Übertragung übersetzt von gennaro Ghirardelli – und von diesem mit einem Vorwort versehen (= Die Andere Bibliothek Band 378). Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. 491 Seiten, 42 Euro. 978-3-8477-0378-5.

Martin Eberle: Monumente der Sehnsucht. Die Sammlung Korkmodelle auf Schloss Friedenstein Gotha. Morio Verlag, Heidelberg 2017. 120 Seiten, 24,95 Euro.978-3-945424-25-4.

Nick Thorpe: Die Donau. Eine Reise gegen den Strom. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Paul Zscholnay Verlag, Wien 2017. 382 Seiten, 26 Euro. 978-3-552-05861-3.

Thomas Morus: Utopia. Reprint. Hg. von Joachim Starbatty. Mit einleitenden Essays von Otfried Höffe und Joachim Starbatty und der Übersetzung von Klaus J. Heinisch. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2016. Reprint+172 Seiten,  98 Euro. 978-3-487-15361-2.

Michaela Holdenried | Alexander Honold | Stefan Hermes (Hg.): Reiseliteratur der Moderne und Postmoderne. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2017. 682 Seiten, 59,95 Euro. 978-3-503-17129-3.

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