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Kurzkritik Eribon „Rückkehr nach Reims“

von broemmling am 25. Juni 2017

Ausgelesen! Mit seiner Rückkehr nach Reims legt Didier Eribon eines der erstaunlichsten Bücher der letzten Jahre vor. Der Autor kehrt nach vielen Jahren anlässlich des Todes seines Vaters in seine Heimatstadt zurück. Den Vater wollte er zu Lebzeiten nicht noch einmal besuchen noch erweist er ihm zur Beerdigung letzte Ehre und letztes Geleit: Zu tief ist der Graben zwischen Vater und Sohn. Aber in der nun folgenden Reflexion über Leben, Herkunft und Familie, über Aufstiegschancen in der Gesellschaft und selbst gewählte Benachteiligung, über Diskriminierung von Minderheiten, Bildungsverachtung und Bildungsbegeisterung kommt Eribon zu frappierenden Erkenntnissen – für sich selbst und für den Leser. Er spürt, dass das Hauptmotiv für seinen Auszug aus Reims und die Entscheidung für Paris möglicherweise nicht sein geplantes, erhofftes und erfolgtes Coming Out war, das ihm in der Hauptstadt leichter fiel. Hauptmotiv war die Leugnung seiner sozialen Herkunft, denn auch später war er stets peinlich berührt, wenn er auf Personalbögen den Beruf der Eltern angeben musste (Hilfsarbeiter und Putzfrau). Aber Eribon erklärt noch viel mehr: warum Menschen aus dem Prekariat plötzlich rechts wählen, welche Verantwortung dafür der Linken zukommt (und wie sie dagegenwirken könnte), welchen täglichen Erniedrigungen jeder Schwule bis heute ausgesetzt ist, auch wenn die meisten Mechanismen entwickelt haben, damit zu leben. Und zwischen allem Hinweise auf Sartre, Bourdieu und Foucault, die wieder mal Lust auf viele, viele theoretische Texte machen. Das gelingt in dieser Form nur wenigen. Ob allerdings die Rückkehr nach Reims auf die Bühne gebracht werden soll und kann – die Berliner Schaubühne hat den Text ins Programm genommen –, bezweifle ich stark. Es bleibt eine wenn auch überschaubare Menge an Texten, die man sich lesend aneignen sollte. Eribons Gedanken zu dramatisieren, ist doch eher Ausdruck einer Konsumgesellschaft, die sich nichts mehr lesend in der Privatheit aneignen will und sich auch solch einen großen Text in vorgefertigter Portion an einem Abend servieren lassen will … also falls einer wirklich nur ins Theater gehen will. Die Rückkehr nach Reims sollte jeder vorher auch selbst gelesen haben.

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017 [2016]. 238 Seiten, 18 Euro. 978-3-518-07252-3.

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