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Thema des Monats: Von flanierenden Dandys, von bürgerlicher Vergesellschaftung und sozialem Aufstieg. Vier Kurzkritiken

von broemmling am 6. Mai 2017


Ausgelesen! Wenn wir an den Dandy klassischen Typs denken, kommen uns Oscar Wilde und Harry Graf Keßler in den Sinn, vielleicht noch Edward Herzog von Windsor, der Onkel der Queen, der auf den Thron verzichtet hatte, um ein bürgerliches, aber mondänes Leben zu führen. Was aber ist ein moderner Dandy, wo leben die Dandys der Gegenwart? Der Kulturwissenschaftler Günter Erbe hat ein gut lesbares Buch geschrieben, in dem er die Eigenschaften eines Dandys mithilfe früherer Vertreter herausarbeitet. Neben einem modernen Dandytum in durchaus zeitgemäßer und gewandelter Form, wie es David Bowie, Quentin Crisp und Hans Werner Henze verkörpern, zeigt Günter Erbes Argumentation aber auch gescheiterte Dandyentwürfe: Karl Lagerfeld mag ein Dandy sein, nur im seidenen Smoking von Lagerfeld herumzulaufen wie es Jaques de Bascher tat, reicht aber offensichtlich nicht. Ein wissenschaftlich fundiertes und besonders unterhaltsames Buch, zur Lektüre empfohlen.

Das Flanieren und seine Qualitäten nur dem Dandy zuzuordnen, der seine Zeit mit dem verbringt, worauf er gerade Lust hat, wird dem Phänomen des Flanierens nur unzureichend gerecht. Selbstverständlich hatte unter allen Spaziergängern der Geschichte der Dandy wohl am meisten Zeit und Muße fürs Wandeln durch die Stadt. Aber Karsten Michael Dohsel hat in seinem Band über das Erbe des Flanierens einen gang anderen Aspekt herausgearbeitet: Den Wert des aufmerksamen Gehens für das lokale Erinnern. Dohsel verbindet individuelles und kollektives Erinnern in den bekannten Gedächtnisdiskurs ein. Die Fülle des Materials, das der Autor in seine Argumentation einbringt, beeindruckt und scheint doch keineswegs überfrachtet. So sind Erinnerungsorte der einen Person niemals identische Erinnerungsorte der anderen Person – und doch trägt jeder, der beobachtet, erinnert, vergleicht, interpretiert und darüber spricht, zum Verständnis eines Ortes und seiner historischen Erinnerungsmasse bei. Cees Nooteboom hat dem Flaneur die wohl schönste Ehrerbietung gezeigt, wenn er sie als Künstler bezeichnet, die Erinnerung instandhalten, Unheil zuerst erkennen und die Stadt erst Stadt werden lassen.

Führt man sich die absolute Eigenständigkeit des Dandys vor Augen, scheinen Intellektuellennetzwerke beinahe als gesellschaftlicher Gegenentwurf. Sie lebten und leben schließlich gerade vom oft stillen Einvernehmen in politischen und gesellschaftlichen Fragen. In einem von Frank-Miachael Kuhlemann und Michael Schäfer herausgegebenen Band sind viele dieser Kreise und Bünde untersucht, die in der Schweiz, in Österreich und Deutschland vor allem am Anfang des 20. Jahrhunderts Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung nahmen. Aber wer die Intellektuellenkreise, Salons und andere Zusammenschlüsse auf diesen Zeitraum begrenzt, denkt zu eng, ist vielleicht zu stark dem Kreis um Stefan George verhaftet, der sicher der bekannteste seiner Art ist. Der Sammelband erzählt viel mehr, berichtet vom Patmoskreis, vom Euckenbund und geht bis in die Nachkriegszeit zum Kreis um Georg Picht, dessen Warnung vor der Bildungskatastrophe heute viel geläufiger ist als seine Arbeit in der Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, die der Historiker Hagen Stöckmann von der Universität Göttingen im vorliegenden Band beleuchtet. Auch wenn der Kreis um Georg Picht zuweilen als „protestantische Mafia“ verunglimpft wurde: Wir sehnen uns heute nach Ursula von der Leyens Art des Umgangs mit den Missständen in der Bundeswehr (und den undifferenzierten Reaktionen darauf) nach dem differenzierten Diskurs der 1960er Jahre zurück.

Dandy, Flaneur oder Intellektueller: Gemein ist den meisten der gelungene soziale Aufstieg (abgesehen von jenen, bei denen es gilt, einen sozialen Abstieg zu verhindern). Ein neues Buch von Almut Goldhahn entführt uns ins Italien des 17. und 18. Jahrhunderts und zeigt uns anhand der Person des Aurelio Rezzonico, wie der Aufstieg einer ganzen Familie erst wirtschaftlich, dann in Patriziat hinein gelang und Bestand hatte. Der Band greift interessante Aspekte heraus und zeigt dem Leser zum Beispiel, wie die Kunstsammlung quasi als Eintrittskarte in die Adelsgesellschaft gelang. Im Lauf von 150 Jahren wurde aus der venezianischen Kaufmannsfamilie Rezzonico eine römische Papstfamilie: 1758 wurde Carlo Rezzonico zum Papst Clemens XIII. gewählt. Er wurde nicht gerade ein Dandy der modernen Art. Aber sein jesuitenfreundliches Handeln war durchaus eigenwillig und eigenständig. Leider ging er letztlich als Gegenaufklärer in die Geschichte ein. Einfluss auf den Nachruhm haben weder Päpste noch Dandys.

Günter Erbe: Der moderne Dandy. Böhlau Verlag, Köln 2017. 351 Seiten, 29,99 Euro. 978-3-412-50715-2.

Karsten Michael Drohsel: Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse (= Urban Studies). Transcript Verlag, Bielefeld 2016. 289 Seiten, 29,99 Euro. 978-3-8376-3030-5.

Frank-Michael Kuhlemann | Michael Schäfer (Hg.): Kreise, Bünde, Intellektuellennetzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890-1960. (= Transcript Historie). Gefördert mit Mitteln der DFG. Transcript Verlag, Bielefeld 2017. 276 Seiten, 34,99 Euro. 978-3-8376-3557-7.

Almut Goldhahn: Von der Kunst des sozialen Aufstiegs. Statusaffirmation und Kunstpatronage der venezianischen Papstfamilie Rezzonico (= Studien zur Kunst 37). Geedruckt mit Unterstützung der DFG und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Böhlau Verlag, Köln 2017. 416 Seiten, 80 Euro. 978-3-412-50352-9.

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