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Kurzkritik Yanagihara: „Ein wenig Leben“

von broemmling am 11. März 2017

Ausgelesen! Ich könnte auch vorsichtig „Ausgeweint!“ schreiben, aber das wäre nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Denn die Tränen kamen erst auf den letzten fünf Seiten – von 958 – dafür aber üppig. Hanya Yanagihara hat mit Ein wenig Leben einen herausragenden Roman geschrieben, der vier Freunde – oder zwei oder einen oder fünf, je nach Perspektive – durch drei Jahrzehnte ihres Lebens begleitet. Das tut sie stilsicher, auch wenn die Erzählperspektive zuweilen unvermittelt und unbegründet wechselt und manches Bild dann doch ein bisschen misslingt („Wie oft sollte er sich denn wiederholen müssen, wo er doch jedes Mal, wenn er die Geschichte erzählte, die Kleider von seiner Haut abstreifte und das Fleisch von seinen Knochen, bis er so verletzlich war wie eine kleine rosa Maus?“ – wo kommt da bloß die rosa Maus auf einmal her? Aber das sind Ausnahmen). Wenn dem Leser langsam die Geschichte des einen Freundes immer klarer vor Augen tritt, geschieht dies durch eine bislang ungekannte Subtilität und faszinierende Beobachtungsgabe Yanagiharas: Immer wieder fragt man sich, wie der Autorin so wunderbare Kleinigkeiten in Gedanken, Gefühlen und Gesten egal bei wem ihrer Akteure so passend einfallen konnten. Die hawaiianische Autorin spitzt Situationen so kunstfertig zu wie Bleistifte, immer weiter, und immer hofft man weiter, dass die Mine nicht brechen möge – bis es zu spät ist. Denn natürlich hat A Little Life kein Happy End – das ist nicht zu viel verraten (aber jede weitere Bemerkung zu Konstellationen oder Ereignissen wäre es). Bei aller Begeisterung störte doch zweierlei die Lektüre: Alle Akteure sind supererfolgreich, gleich ob Künstler, Architekt, Schauspieler, Anwalt. Und zuweilen vermisst man bei allem subtilen Erzählen doch die Nuancen. Die Menschen sind hier entweder besonders böse oder besonders gut. Irgendeine graue Maus (anstelle der rosafarbenen) hätte auch mal gut getan. Aber ungeachtet dessen: ein großer, großer Roman.

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin, Berlin 2016. 958 Seiten, 28 Euro. 978-3-446-25471-8.

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