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Kurzkritik „Texte und Tabu“

von broemmling am 7. Februar 2017

Ausgelesen! Ein Band aus der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften beim Transcript Verlag befasst sich mit Tabu und Tabubruch in literarischen Texten von der Spätantike bis in die Gegenwart. Wenn man schonungslos gegen sich selbst ist, fragt man sich, wann man selbst eigentlich zuletzt ein Tabu gebrochen hat. Wenn man weniger schonungslos ist, fragt man sich vielleicht, wann man zuletzt Tabu gespielt hat, ein eigentlich harmloses Gesellschaftsspiel, bei dem es allerdings schnell zu Störungen des Spielfriedens kommen kann. Literarische Texte aber leben vom Tabubruch; oft hat das Tabu eine narrative Funktion. Wir können vom Verbot und Tabu im Märchen lesen (Uta Miersch), wo sich in Grimms Allerleirauh des Königs Tochter dem Wunsch ihres Vaters entzieht, sie zu heiraten. Der arme Parzifal hat, lesen wir bei Nicole Otte, gleich mehrere Verbote zu befolgen (gegen die das „Nie sollst du mich befragen“-Gebot von Lohengrin einfach scheint). Und ganz wunderbar ist Dominik Schuhs Aufsatz über weinende Ritter – oder besser natürlich: über nicht-weinende Ritter. Warum der Schoß der Königin tabu ist (Philipp Giller) und viele weitere Erkenntnisse aus der Tabuforschung unterhalten den Leser, ganz gleich, ob er mit wissenschaftlichem Anspruch an die Texte geht oder aus schlichter Neugierde. Auch wenn sich die meisten Aufsätze mit Texten aus dem Mittelalter befassen, zeigt ein Beitrag zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Geschwisterinzest (Claudius Geisler) die Aktualität des Themas Tabu.

Alexander Dingeldein | Matthias Emrich (Hg.): Texte und Tabu : zur Kultur von Verbot und Übertretung von der Spätantike bis zur Gegenwart (= Mainzer historische Kulturwissenschaften Band 21). Transcript Verlag, Bielefeld 2015. 212 Seiten, 29,99 Euro. 978-3-8376-2670-4.

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