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Rezensionen in der Winter-DHIVA: Vom Impfen und Therapieren

von broemmling am 23. November 2016

Ausgelesen: Soeben eingetroffen ist die Winter-DHIVA mit meinen Kurzkritiken von vier Neuerscheinungen unter dem Titel Vom Impfen und Therapieren – obenrum und untenrum.

Jedes Jahr Anfang Dezember steht mit dem Welt-Aids-Tag die Therapie im Zentrum des Interesses. Die Frage nach neuen Wegen bei der Bekämpfung von HIV ist ein kleiner Baustein in unserer komplexen Welt, die sich mit der Behandlung oder Verhinderung von Krankheiten beschäftigt. Dass dies in ganz unterschiedlicher Art und Weise möglich ist, was wissenschaftlichen Anspruch, Niveau und Charakter der Störung betrifft, zeigen vier aktuelle Neuerscheinungen.

Ein leichter Weg, eine Krankheit zu vermeiden, scheint die Impfung zu sein – wenn es einen Impfstoff gibt und wenn wir jenen nicht ebenfalls als Übel betrachten, bei dem wir den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Die US-Amerikanerin Eula Biss hat ein ausgewogenes Buch über das Impfen geschrieben. Ausgewogen nicht, weil sie sich selbst nicht entscheidet; sie selbst ist im Zweifel fürs Impfen. Ausgewogen aber, weil sie Verständnis für Gegenargumente aufbringt. Plausibel legt sie dar, warum eine Impfung im Vergleich mit einer Krankheit keinesfalls die größere Monstrosität ist. Was haben wir Menschen nicht alles geglaubt: Dass Impfstoffe Formaldehyd enthalten oder Quecksilber. Dass die Injektion Syphilis übertrage, stimmte sogar einmal – vor hundert Jahren. Eula Biss nimmt, was das Impfen angeht, alle Ängste.

Das Impfmanifest kommt gut ohne Doktortitel aus; bei der urologischen Handreichung steht der Titel hingegen auf dem Cover: Oliver Gralla klänge wohl inkompetent, da muss Dr. Gralla her. Männern wie Frauen die Angst vor Urologie, Andrologie, Gynäkologie mit einem beherzten Ratgeber zu nehmen, ist gut gemeint, in diesem Fall aber nicht gut. Man bekommt jede Antwort auch bei Dr. Internet, und zwar ohne alberne Synonyme wie dem „rosa behelmten Liebeskrieger“ oder Schilderungen der Australienreise befreundeter Eltern mit Kinderwunsch.

Was man nicht im Internet findet, ist die Geschichte von Eugen Steinachs Physiologie der Sexualhormone, die Sonja Walch auf hohem Niveau erzählt. Der Wiener Arzt wunderte sich über die Verjüngung von Mensch und Tier und findet die Ursache in Liebe und Sexualität. Ab 1894 forschte er erst über Nerven und Triebe, dann über Hormone, Reize und Signale. Über Steinach stieg die Firma Schering in den Sexualhormonmarkt ein, doch Steinach muss 1938 ins Exil – das ihm als Sexualhormonforscher in den USA versagt wird; er stirbt 1944 in der Schweiz.

Einen weit größeren Einfluss auf das Verstehen von Trieben und Signalen hat ein Zeitgenosse Steinachs, ebenfalls aus Wien: Siegmund Freuds Lehre löste in den 1970ern einen wahren Psychoboom aus. Wie die Verwissenschaftlichung des Selbst zu dessen Befreiung und Demokratisierung führte, schildert der Historiker Maik Tändler. Er macht die 1970er als das Jahrzehnt aus, in dem sich die „psychologische Menschenführungsexpertise“ breit zu etablieren begann. Bis in die Einzelheiten lohnt die Lektüre, wie sich die Psychologie vom Nischenfach zur therapeutischen Leitwissenschaft entwickelt. Das wird sie bleiben. Denn gegen psychische Störungen gibt es keine Impfung.

Eula Biss: Immun. Über das Impfen – von Zweifel, Angst und Verantwortung. Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann. Carl Hanser Verlag, München 2016. 978-3-446-44697-7. 236 Seiten, 19,90 Euro.

Oliver Gralla: Untenrum glücklich. Eine urologische Handreichung. Bastei Lübbe, Köln 2016. 978-3-404-60918-5. 206 Seiten, 15 Euro.

Sonja Walch: Triebe, Reize und Signale. Eugen Steinachs Physiologie der Sexualhormone. Vom biologischen Konzept zum Pharmapräparat, 1894-1938 (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte Band 6). Böhlau Verlag, Wien 2016. 978-3-205-20200-4. 274 Seiten, 40 Euro.

Maik Tändler: Das therapeutische Jahrzehnt. Psychoboom, Politik und Subjektivität in den 1970er Jahren (= Veröffentlichungen des zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen Band 30). Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 978-3-8353-1850-2. 360 Seiten, 49,90 Euro.

DHIVA Dezember 2016

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