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Kurzkritik „Retter der Antike: Marquard Gude“

von broemmling am 16. Oktober 2016

Ausgelesen! Eigentlich hat dieser neue Band der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel einen Platz in der Rubrik „Neuerscheinungen“ von VIERVIERTELKULT verdient, aber das nächste Heft kommt frühestens im Dezember 2016, möglicherweise erst im Januar 2017 – und da ist die Ausstellung, die dieser Band begleitet, schon vorüber. Marquard Gude (1635-1689) war ein Gelehrter, wie er für das 17. Jahrhundert typischer kaum sein konnte. Der Wahrheit verpflichtet und doch keinen Konflikt scheuend, brachte er es zu Bekanntheit und Ruhm, als sich Europa langsam von den Schäden des Dreißigjährigen Krieges erholte. Gude, aus dem schleswig-holsteinischen Rendsburg stammend, hat sich selbst einmal als „Retter der Antike“ bezeichnet. Und in der Tat dürfte er manche Handschrift und Inkunabel vor der Vernichtung durch Verrottung oder Zerstückelung bewahrt haben. In Florenz etwa stellte er einen Codex mit einem Text des römischen Dichters Livius sicher. In der Herzog August Bibliothek ist derzeit eine wunderbare Ausstellung zu sehen, die einen Eindruck des Beziehungsgeflechtes gibt, in dem sich ein Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts bewegte. So steht Marquard Gude stellvertretend für ganze Generationen von Gelehrten in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und Italien. Einem Gelehrten der übernächsten Generation ist es zu verdanken, dass sich ein Großteil der ehemals Gudeschen Bibliothek heute in Wolfenbüttel befindet (ein anderer Teil findet sich in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar): Gottfried Wilhelm Leibnitz überzeugte als Leiter der Bibliothek Herzog Anton Ulrich im Jahr 1710, die angebotenen Werke für Wolfenbüttel zu sichern. Es war Glück für die Bibliothek – und für die Bücher selbst. Der Begleitband beleuchtet ausführlich das Gelehrtentum, das sich im Erwerb und Gebrauch des Lateinischen und Altgriechischen, im Handschriftenstudium und in ausgeprägter Editionstätigkeit äußerte (Thomas Haye). Mit Uta Kleine wirft der Leser einen Blick in die Bibliothek Marquard Gudes, in der neben den lateinischen Klassikern auch Werke aus Technikwissenschaften, Mathematik und Militärwissenschaften zu finden sind. Die weiteren Beiträge zeigen, dass Gude nicht nur Retter der Antike, sondern auch Retter des Mittelalters war, denn die Gudesche Bibliothek enthält auch eine Reihe mittelalterlicher Handschriften zur Medizin (Iolanda Ventura). Auch zahlreiche Bilder gingen aus der Bibliothek Gudes in den Bestand der HAB über (Michael Wenzel); leider sind sie im Begleitband nur schwarz-weiß wiedergegeben. 478 Bände umfasst die Kollektion der Codices Gudiani: Bertram Lesser beschreibt ihren Stellenwert unter den acht historischen Handschriftenfonds der HAB in seine mAufsatz zur Katalogisierung der Werke in Wolfenbüttel. Wer sich für Wissenschaftsgeschichte interessiert, darf die Ausstellung nicht verpassen, die noch bis 8. Januar 2017 in der Augusteerhalle und im Kabinett der Bibliotheca Augusta gezeigt wird; wer es nicht nach Wolfenbüttel schafft, muss sich auf den ausgezeichneten Begleitband beschränken.

Patrizia Carmassi (Hg.): Retter der Antike. Marquard Gude (1635-1689) auf der Suche nach den Klassikern (= Wolfenbütteler Forschungen Bd. 147). Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2016, 576 Seiten mit 129 s/w-Abb. und 20 Farbabb., 82 Euro. ISBN 978-3-447-10659-7.

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