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Rezensionen in der Herbst-DHIVA: Fünf neue Titel aus der Verschwörungsecke

von broemmling am 3. Oktober 2016

In der Herbstausgtabe der DHIVA sind gerade meine Kurzkritiken zu fünf aktuellen Titeln unter der Überschrift „Von Verschwörung, Verdummung und Vorurteilen“ erschienen

Vor fast 60 Jahren schrieb der französische Poststrukturalist Roland Barthes über Mythen des Alltags. Mythos ist für Barthes ein Wahrnehmungsphänomen, das die Komplexität menschlicher Handlungen ignoriert und so Evidenz vortäuscht. Die Dialektik ist ausgehebelt. Stephanie Wodianka und Juliane Ebert haben zum aktuellen Stand der Mythenforschung eine Anthologie herausgegeben. Bemerkenswert ist etwa Heike Pauls Darstellung nordamerikanischer Gründungsmythen vom Entdecker Kolumbus über Pocahontas bis zu den Founding Fathers. Claudia Jünke macht im Spanischen Bürgerkrieg gar einen ganzen Mythenkomplex aus.

Wer anhand eines bis heute verbreiteten Mythos die Wirkungsmechanismen von Evidenz und Vereinfachung verfolgen will, kommt an Thomas Etzemüllers Suche nach dem Nordischen Menschen kaum vorbei. Bis heute ist die Ansicht verbreitet, sozial „wertvolle“ Karrierefrauen der „Mittelschicht“ bekämen zu wenige Kinder, während kinderreiche Migrantinnen der Nachwelt die kulturelle Identifizierung erschwerten.

Vom Mythos zur Verschwörungstheorie ist es nur ein kleiner Schritt. Auch letztere wird glaubhaft durch Reduzierung der Komplexität. Verschwörungstheoretiker beharren auf ihrem Recht: Ein Dementi ist für sie nur ein weiterer Beleg ihrer Behauptung. Karl Hepfer zeigt Verschwörungstheorien als Kehrseite der Vernunft. Wem die Aufklärung zu schnell geht, der oder die flüchtet sich schnell in abstruse Theorien der Verschwörung entweder der Illuminati, der Juden, der „Kopftuchmädchen“, der Außerirdischen oder wer noch alles als schwarzer Peter oder schwarze Petra herhalten muss.

Wie mit allem in der Welt lässt sich auch mit Verschwörungstheorien Geld machen. Ob es sich dabei um eine Verschwörungsindustrie handelt oder ob wir es nur mit einem Geschäftsmodell zu tun haben, kann uns gleich sein. John David Seidler legt mittels Quellenanalyse schlüssig dar, wie sich Verschwörungstheorien über jeweils aktuelle Medien verbreiteten, sei es die Mär vom Buchhändlerkomplott gegen Kirche und Krone an der Wende zum 19. Jahrhundert durch Lektüreanweisungen der Gegenaufklärer, sei es der Golfkrieg durch CNN, sei es der 11. September 2001 durch das Internet. Auch zu Ursprung und Verbreitung von Aids stoßen wir immer wieder auf absurde Theorien, die ähnlich viel Wahrheitsgehalt besitzen wie das Kinderbuch von der großen Käseverschwörung.

Wem das immer noch zu wenig praktisch ist, kann gleich zu Nina Horaczeks und Sebastian Wieses Handbuch Gegen Vorurteile greifen. Konsequent zerlegen Autorin und Autor ein Vorurteil über Migrantinnen und Migranten nach dem anderen. „Ausländer kriegen viel mehr Kinder als wir?“ In Österreich etwa liegt eine ganz andere Gruppe bei der Größe der Kinderschar vorne: die Bäuerinnen. Horaczek und Wiese verweisen das Vorurteil ins Reich der Mythen. Dass sie mit „Mythos“ nicht genau dasselbe meinen wie Roland Barthes und die Mythenforschung, ist zweitrangig. Es sollte zur Pflichtlektüre für alle werden, die öffentlich das Wort ergreifen wollen.

Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hg.): Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens. Transcript Verlag, Bielefeld 2016. 978-3-8376-3106-7. 327 Seiten, 34,99 Euro.

Thomas Etzemüller: Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen. Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt. Transcript Verlag, Bielefeld 2015. 978-3-8376-3183-8. 291 Seiten, 29,99 Euro.

Karl Hepfer: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Transcript Verlag, Bielefeld 2015. 978-3-8376-3102-9. 189 Seiten, 24,99 Euro.

John David Seidler: Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Transcript Verlag, Bielefeld 2016. 978-3-8376-3406-8. 368 Seiten, 39,99 Euro.

Nina Horaczek, Sebastian Wiese: Gegen Vorurteile. Wie du dich mit guten Argumenten gegen dumme Behauptungen wehrst. Czernin Verlag, Wien 2015. 978-3-7076-0493-1. 190 Seiten, 17 Euro.

DHIVA September 2016

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