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Von Verschwörung, Verdummung und Vorurteilen – Kurzkritiken in der DHIVA

von broemmling am 4. September 2016

Wer die Mechanismen der Argumentation von Verschwörungstheoretikern nicht kennt, kann ihnen anfangs auf den Leim gehen. Gleich mehrere Neuerscheinungen, besprochen in der Herbst-DHIVA 2016, geben einen Überblick und schlagen Antworten vor.

Verschwörung, Verdummung und Vorurteile

Mythen unseres Alltags zusammengefasst

Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hg.): Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens (= Edition Kulturwissenschaft Band 72). Transcript Verlag, Bielefeld 2016. 978-3-8376-3106-7. 327 Seiten, 34,99 Euro.
John David Seidler: Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Transcript Verlag, Bielefeld 2016. 978-3-8376-3406-8. 368 Seiten, 39,99 Euro.
Karl Hepfer: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft (= Edition Moderne Postmoderne). Transcript Verlag, Bielefeld 2015. 978-3-8376-3102-9. 189 Seiten, 24,99 Euro.
Thomas Etzemüller: Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen. Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt (= Science Studies). Transcript Verlag, Bielefeld 2015. 978-3-8376-3183-8. 291 Seiten, 29,99 Euro.
Nina Horaczek | Sebastian Wiese: Gegen Vorurteile. Wie du dich mit guten Argumenten gegen dumme Behauptungen wehrst. Czernin Verlag, Wien 2015. 978-3-7076-0493-1. 190 Seiten, 17 Euro.

Fast 60 Jahre ist es her, da versammelte der französische Poststrukturalist Roland Barthes in einem kleinen Bändchen von ihm beobachtete „Mythen des Alltags“. Mythos ist für Barthes ein Wahrnehmungsphänomen, das die Komplexität menschlicher Handlungen abschafft und so Evidenz vortäuscht. Die Dialektik ist ausgehebelt. Seit 1957 ist die Mythenforschung weiter, und Stephanie Wodianka und Juliane Ebert haben den aktuellen Stand in einer aufschlussreichen Aufsatzsammlung zusammengefasst. Bemerkenswert ist etwa Heike Pauls Darstellung der nordamerikanischen Gründungsmythen, vom Entdecker Kolumbus über Pocahontas bis zu den Founding Fathers. Claudia Jünke schließlich macht im Spanischen Bürgerkrieg einen ganzen Mythenkomplex aus.
Wer anhand eines bis heute in weiten Teilen der Bevölkerung immanenten Mythos die Wirkungsmechanismen von Evidenz und Vereinfachung verfolgen will, kommt an Thomas Etzemüllers Suche nach dem Nordischen Menschen nicht vorbei. Auch heute noch finden viele, sozial „wertvolle“ Karrierefrauen der „Mittelschicht“ bekommen zu wenige Kinder, während kinderreiche Migrantinnen der Nachwelt die kulturelle Identifizierung erschwerten.
Vom Mythos zur Verschwörungstheorie ist es nur ein kleiner Schritt. Auch letztere wird nur glaubhaft durch Reduzierung der Komplexität. Im Gegensatz zu Trägern oder Verkündern von Mythen beharren aber Verschwörungstheoretiker auf ihrem Recht: Sie allein sagen die Wahrheit, ein Dementi ist für sie ein weiterer Beleg ihrer Behauptung. Karl Hepfer zeigt in einem flüssig beschriebenen Buch, wie Verschwörungstheorien die Kehrseite der Vernunft sind. Wem die Aufklärung zu schnell geht, der oder die flüchtet sich schnell in abstruse Theorien der Verschwörung entweder der Illuminati, der Juden, der Jesuiten, der Kopftuchmädchen, der Außerirdischen oder wer noch alles als schwarzer Peter oder schwarze Petra herhalten mag.
Wie mit allem in der Welt lässt sich auch mit Verschwörungstheorien trefflich Geld machen. Ob es sich dabei um eine ganze Verschwörungsindustrie handelt oder ob wir es nur mit einem Geschäftsmodell zu tun haben, kann uns eigentlich gleich sein. John David Seidler hat nun die wirtschaftlichen, kulturgeschichtlichen und medienrelevanten Aspekte untersucht mittels Quellenanalyse, wie die großen Verschwörungstheorien über jeweils aktuelle Medien besondere Verbreitung fanden, sei es jene , sei es die Mär vom Buchhändlerkomplott gegen Kirche und Krone an der Wende zum 19. Jahrhundert durch durch Lektüreanweisungen der Gegenaufklärer, sei es der Golfkrieg durch CNN, sei es der 11. September 2001 durch das Internet. Auch zur Entstehung und Verbreitung von Aids stoßen wir immer wieder auf absurde Theorien, die ähnlich viel Wahrheitsgehalt besitzen wie das Kinderbuch von der großen Käseverschwörung.
Wem das alles immer noch zu wenig praktisch ist, möge ohne Umwege zu Nina Horaczeks und Sebastian Wieses kleinem Handbuch „Gegen Vorurteile“ greifen. Es ist überraschend und entwaffnend, wie konsequent Vorurteil nach Vorurteil über Migrantinnen und Migranten zerlegt wird. „Ausländer kriegen viel mehr Kinder als wir?“ In Österreich etwa liegt eine ganz andere Gruppe bei der Größe der Kinderschar vorne: die Bäuerinnen. Horaczek und Wiese verweisen das Vorurteil ins Reich der Mythen. Dass sie mit „Mythos“ nicht genau dasselbe meinen wie Roland Barthes und die Mythenforschung, ist zweitrangig. Es sollte zur Pflichtlektüre für alle werden, die öffentlich das Wort ergreifen wollen.

Von → Allgemein, Rezension